Hans-Heinrich Dieter

Deutscher Vertrauensverlust  (30.09.2022)

 

Am 28.09.2022 wurde in Berlin die Bundeskanzler-Helmut-Kohl-Stiftung feierlich eröffnet. Angela Merkel meinte im Rahmen der Festveranstaltung von der Seitenlinie bemerken zu sollen: „Wir müssen sehr viel mehr bereit sein, die Führungsfunktion, die uns jetzt zugefallen ist, wahrzunehmen.“ Vielleicht war das eine Anspielung auf den führungsschwachen Olaf Scholz. Und das sagt Merkel, die nicht strategisch denken konnte, nie ein Konzept oder einen Plan hatte, immer auf Sicht ohne Kompass gefahren ist und zweimal das von Obama angebotene „Partnership in Leadership“ nicht angenommen hat. Vielleicht war sie ja nicht zu feige, sondern hat ihre Fähigkeiten lediglich richtig eingeschätzt!

Und in dieser Woche war auch die neue Präsidentin des europäischen Parlaments, die Christdemokratin Roberta Metsola aus Malta, in Berlin zum Interview bei den Steingart Pioneers eingeladen und vermittelte den Eindruck, dass sie mit anderen Europäern die Ungeduld teilt, dass das, was in Brüssel beschlossen wird, zu wenig ist. Zu wenig Ambition. Zu wenig Substanz. Zu wenig Tempo! Und sie meint: „In dieser neuen Welt brauchen wir Führung. Wir brauchen ein Europa, das groß ist bei den großen Dingen und klein bei den kleinen Dingen.“ …und „Jetzt ist es wichtig, dass Europa eine Führungsrolle übernimmt. Und wir werden uns an Deutschland wenden, um diese Führung zu übernehmen.“ Das ist bemerkenswert, und da kann man nur hoffen, dass sie sich engagiert für die überfällige Strukturreform der EU einsetzt und die EU so außen- und sicherheitspolitisch entscheidungs- und handlungsfähig wird. Sie ist allerdings wohl noch nicht lange genug im Amt, um Kanzler Scholz, die Ampel und die Fähigkeiten Deutschlands richtig einschätzen zu können!

Da ist Frau Metsola aber nicht alleine, denn eine deutsche Führungsrolle wird auch von anderen gefordert, die es besser wissen sollten. Wie in Zeiten der Pandemie und spätestens nach der „Zeitenwende“ durch den verbrecherischen russischen Angriffskrieg aber deutlich wird, haben 16 Jahre Merkel Deutschland nicht gutgetan.

Deutschland hat keine außenpolitischen Ziele formuliert und hat kein außen- und sicherheitspolitisches Konzept, das es in die EU einbringen könnte. Deutschland hat eine marode Eisenbahn- und Brückeninfrastruktur, die auf längere Zeit sehr stark finanziell belasten wird. Das naiv-pazifistische Deutschland hat seine Streitkräfte kaputtgespart und wird von nicht wenigen Partnern als sicherheitspolitischer Trittbrettfahrer eingestuft. Wir werden nur mit sehr hohem Finanzaufwand nach NATO-Kriterien bis 2031 die Einsatzfähigkeit zur Bündnisverteidigung wiederherstellen können. Und vor diesem Hintergrund nannte die Verteidigungsministerin „Azubine“ Lambrecht in einer Grundsatzrede Mitte September auf einer Veranstaltung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) militärische Sicherheit als zentrale Aufgabe und forderte, die deutschen Rüstungsausgaben zu erhöhen. Deutschlands Gewicht mache es – auch militärisch – zur Führungsmacht, so die SPD-Politikerin. Da wird man sie eher als Maulheld*in einstufen.

Wirtschaftspolitisch hat sich Deutschland geradezu verantwortungslos in eine zu große Abhängigkeit von Russland und von China manövriert. Die erpresserische hybride Kriegführung Putins auch gegen Deutschland macht sehr deutlich, dass unsere Russlandpolitik der vergangenen Jahre naiv, unvernünftig und letztlich zum Schaden Deutschlands gestaltet wurde. Deutschland ist im Hinblick auf seine digitale Entwicklung geradezu abgehängt und besitzt im Hinblick auf die Bildungsqualität nur Mittelmaß. Dabei erfordert unsere demographische Entwicklung gut ausgebildete und leistungsfähige Nachwuchskräfte – und wir leiden als größte Wirtschaftsnation Europas real unter massivem Fachkräftemangel. Darüber hinaus sind unsere Sozialsysteme seit 2015 durch zu umfangreiche Flüchtlingsaufnahmen überlastet und – das, was wir brauchen - ein Einwanderungsgesetz nach kanadischem Vorbild, ist noch nicht erarbeitet. Außerdem tut die EZB zu wenig gegen die Inflation und wir laufen auf eine Rezession zu. Unsere Enkel werden es nicht leicht haben, denn seinem gelegentlich auch formulierten Anspruch, zur Weltklasse zu gehören, wird Deutschland schon seit Langem nicht mehr überall gerecht. Und wie soll Deutschland in diesem bedauernswerten Zustand Führung in Europa übernehmen können?

Darüber hinaus baut erfolgreiche Führung auch auf dem entgegengebrachten Vertrauen der Partner auf. Und da ist einer aktuellen Studie des Thinktanks German Marshall Fund, bei der Menschen in 14 Ländern befragt wurden, eine negative Entwicklung zu verzeichnen - Deutschland hat bei seinen Partnern an Vertrauen deutlich eingebüßt. Deutschland gilt als deutlich weniger verlässlich als noch vor einem Jahr – besonders in Polen, der Türkei und den USA. Das wird aktuell hauptsächlich auf die zögerliche Haltung Deutschlands im Ukraine-Konflikt und die schwache Kommunikation des deutschen Engagements zurückgeführt. Außerdem hat wohl vor allem das lange Festhalten an der Gaspipeline Nord Stream 2 und die abwartende Position bei Waffenlieferungen das Vertrauen beschädigt.

Frau Metsola hat Recht, wenn sie feststellt: „In dieser neuen Welt brauchen wir Führung. Wir brauchen ein Europa, das groß ist bei den großen Dingen und klein bei den kleinen Dingen.“ Europa braucht Führung und dazu auch Deutschland als engagiertes EU- und NATO-Mitglied – aber nicht in der Führungsrolle. Die EU muss durch eine Strukturreform aus sich selbst heraus handlungs- und führungsfähig werden. Um mehr Verantwortung übernehmen zu können muss die EU sich weiterentwickeln von einer friedensstiftenden Nachkriegs-Wirtschaftsunion zu einem international handlungsfähigen außen- und sicherheitspolitischen Akteur mit leistungsfähigen politischen Instrumenten, die sie auf der Grundlage einer Gesamtstrategie machtvoll zur Wirkung bringen kann. Dazu muss das Einstimmigkeitsprinzip in außenpolitischen Angelegenheiten durch ein Mehrheitsrecht ersetzt werden. Das alles wird nur durch die allmähliche, schrittweise Gestaltung einer glaubhaften und wirkungsvollen globalen außenpolitischen Rolle gelingen.

Weil es mittelfristig keine strategische EU-Autonomie geben wird, muss die EU in sehr engem Zusammenwirken mit der NATO – ohne sicherheitspolitische Doppelstrukturen - mittelfristig auch in Kooperation mit der NATO über hinreichende Handlungsfähigkeit bei militärischer Machtausübung verfügen. Die EU muss sich von einem sicherheitspolitischen Trittbrettfahrer zu einem engagierten, vertrauenswürdigen außen- und sicherheitspolitischen Akteur entwickeln! EU und NATO können gemeinsam erfolgreich Einfluss auf China und Russland ausüben, die USA unterstützend oder auch ergänzend. Die EU geht die ersten Schritte auf dem richtigen Weg.

Deutschland muss da nicht „führen“, sondern tatkräftig realistische Lösungen unterstützen, die der Zukunft der EU und der Handlungsfähigkeit der NATO – einschließlich des unverzichtbaren Sicherheitsgaranten USA – dienen. Wir müssen wieder ein geachteter, glaubwürdiger und zuverlässiger Partner bei der Gewährleistung unserer gemeinsamen Interessen und Sicherheit werden – wir müssen Vertrauen zurückgewinnen! Das wird nur gelingen, wenn wir uns engagiert und mutig in die EU und in die NATO einbringen und die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr so schnell wie möglich wiederherstellen! Und wir sollten tatsächlich in der Außen- und Sicherheitspolitik mehr Mut zeigen und dazu auch definieren, was wir außenpolitisch wirklich wollen.

Nur mit werteorientierter, konsequenter, multilateral ausgerichteter und gemeinsamer Politik wird eine EU-NATO-Kooperation - zusammen mit den USA – Erfolg haben und international wieder ernst genommen werden!

(30.09.2022)

 

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