Hans-Heinrich Dieter

 

Trauerspiel (29.07.2012)

 

Der Bürgerkrieg in Syrien geht entgegen vielfach anders mutmaßender Berichterstattung in westlichen Medien leider weiter - Ende und Ausgang offen. Der Konflikt offenbart ein vielschichtiges Dilemma und gibt gleichzeitig Anlass für vielfache Armutszeugnisse. Wir haben es mit einem wirklichen Trauerspiel zu tun.

Der Aufstand begann im Frühjahr 2011 und hat sich inzwischen zu einem blutigen Bürgerkrieg entwickelt, in dem rund 20.000 Menschen gestorben sind, in dem die Feindseligkeiten und der gegenseitige Hass immer stärker und damit die Aussichten der 23 Millionen Syrer auf ein geeintes und befriedetes Syrien immer unsicherer werden. Assad hat es versäumt, das Ausmaß des Unmutes und die Brisanz des Aufstandes rechtzeitig zu erkennen sowie richtig einzuschätzen und damit die Möglichkeit zu einem friedenstiftenden Kompromiss im Sinne des ganzen syrischen Volkes wohl weitgehend verspielt.

Die Protestbewegung ist ein zerstrittenes Gemenge aus ca. 60 Gruppierungen ohne erkennbare, geschweige denn legitimierte, Führung, ohne gemeinsames Ziel, ohne Strategie und gemeinsame Vorstellungen über die Zukunft Syriens. Weder der „Syrische Nationalrat“ (SNC) noch die „Freie Syrische Armee“ (FSA) scheinen die Opposition zu dominieren, denn dazu agieren die zahlreichen unterschiedlichen ethnischen Gruppierungen und lokalen Milizen, denen sich Armeedeserteure angeschlossen haben, offenbar viel zu eigenständig. Außerdem hat die Opposition ihre "Verstärkung" durch Al Kaida und Hamas zugelassen und es dadurch der westlichen Welt sehr viel schwerer gemacht, Vertrauen in die Opposition zu gewinnen. Gleichwohl fordert der Chef des in Istanbul ansässigen oppositionellen syrischen Nationalrats, Saida, alle befreundeten Staaten auf, schnelle Waffenhilfe zu leisten. Die westliche Staatenwelt sollte sich sehr genau überlegen und auch prüfen, wen genau sie ggf. im syrischen Bürgerkrieg auch gegen Teile der syrischen Bevölkerung bewaffnet.

Die Arabische Liga hat sich als unfähig erwiesen, in dem Konflikt mäßigend einzugreifen. Auch die Arabische Liga ist zerstritten und die unterschiedlichen Lager verfolgen ihre eigenen Macht-Interessen abseits von Überlegungen zum zukünftigen Wohl des syrischen Volkes. Und die westliche Staatengemeinschaft sollte sehr genau beobachten, welche Ziele genau das autokratisch regierte Qatar und die Diktatur in Saudi Arabien verfolgen, um ein demokratisches Syrien geht es den dortigen Machthabern sicher nicht.

Die selbsternannte Regionalmacht Türkei tut sich sehr schwer, einer solchen, gewohnt großspurig beanspruchten Machtrolle gerecht zu werden. Die Türkei scheut politische Spannungen mit den Wirtschaftspartnern Russland und Iran und befürchtet im Grenzgebiet zu Syrien die Ausweitung der Kurdenprobleme. Und wenn der türkische Staatspräsident Abdullah Gül ein gemeinsames Vorgehen der Staaten der Region in enger Zusammenarbeit mit der Arabischen Liga gefordert hat, weil „nichtregionale Lösungen aus der Ferne“ für die Türkei „nicht brauchbar“ seien, dann stellt sich die Frage nach den Erfolgsaussichten und Realisierungsmöglichkeiten solcher regionaler Lösungen. Bisher gewinnt man eher den Eindruck regionalen Maulheldentums. Tatsache ist, dass die Türkei, über die Aufnahme von Flüchtlingen und den segensreichen Einsatz des türkischen Roten Halbmondes hinaus ihrer Verantwortung für die Region nicht gerecht wird.

Israel hält sich abwartend, aber wachsam zurück. Immerhin ist der syrische Golan von Israel immer noch besetzt, israelische Analysten warnen vor einer zweiten syrischen Front gegen Israel und deswegen wurde von Israel auch die Gefahr durch einen möglichen Einsatz chemischer Waffen Syriens ins politische Spiel gebracht. Dabei geht wohl die größte Gefahr in diesem Zusammenhang davon aus, dass kriminelle und islamistische Teile der Opposition, Al Kaida, die Hamas oder die libanesische Hisbollah in Besitz solcher Waffen geraten, möglicherweise unter Anwendung von Waffen, die auch teilweise die westliche Welt, vom CIA organisiert, inzwischen der Opposition zukommen lässt.

Die Vereinten Nationen erweisen sich erneut als hilflos, wenn es darum geht, der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit, Menschen zu schützen, gerecht zu werden. Über eine Verurteilung der syrischen Machthaber durch ein mehrheitliches Votum der UN-Vollversammlung, den dreifachen - jeweils am Veto Russlands und Chinas gescheiterten - Versuch der Verabschiedung einer das Vorgehen der syrischen Regierung verurteilenden Resolution im Weltsicherheitsrat, eine erfolglose Vermittlungsbemühung und über eine ebenfalls erfolglose Beobachtermission hinaus, konnte nichts wirklich zum Schutz der Menschen in Syrien beitragen. Man setzt höchstens diplomatische Ausrufezeichen, allerdings ohne gravierende und die Not der Bevölkerung lindernde Auswirkung. Und da drängt sich leider eher der Eindruck von Heuchelei sowie falscher und unglaubwürdiger Rhetorik auf. An diesen negativen Erfahrungen orientiert, sollte die Weltgemeinschaft die längst überfällige Reform und Reorganisation des Weltsicherheitsrates unverzüglich in Angriff nehmen, wenn die UN auch zukünftig einen bedeutenden Einfluss auf die Weltpolitik haben will. Ohne grundlegende Reform mit der Möglichkeit von Mehrheitsentscheidungen wird es auf absehbare Zeit angesichts der politischen Grundhaltung der Veto-Mächte Russland und China kein geschlossenes und abgestimmtes Vorgehen der Weltgemeinschaft gegen Menschenrechtsverletzungen und zum Schutz von Menschenleben geben.

Außenminister Westerwelle sagte am 2.6.12 in der WELT: “Russland und seine Haltung zum Regime Assad spielen in der Syrien-Frage eine Schlüsselrolle.“ Russland hat aber offensichtlich ganz eigene Macht- und geopolitische Interessen. Syrien ist Russlands einziger Verbündeter in der Region, über den Einfluss auf den Nahen und Mittleren Osten ausgeübt werden kann. Moskau möchte in der Region ein geopolitisches Gegengewicht zu den USA bilden und sieht das nur gewährleistet, wenn die syrische Marine-Basis Tartus als russischer Militärhafen am Mittelmeer weiterhin ungeschmälert betrieben werden kann. Russland will außerdem seine wirtschaftlichen Interessen wahren und strebt deswegen unverändert eine Konfliktlösung unter Einbeziehung aller Konfliktparteien an. Es geht aber Russland auch um die Verhinderung eines islamistischen Syrien und eines noch stärkeren Einflusses der USA in der Region. Unter den derzeitigen Rahmenbedingungen wird es keine erfolgreichen Schritte zur Konfliktlösung ohne Russland geben. 

Die Veto-Macht China will wohl vor allem ein militärisches Engagement der Weltgemeinschaft und damit – aus chinesischer Sicht - einen Eingriff in die inneren Angelegenheiten Syriens vermeiden. China möchte außenpolitisches Selbstbewusstsein demonstrieren und fährt dabei im Windschatten Russlands. Auch China geht es um Einfluss im Nahen und Mittleren Osten, den es durch ein Libyen-ähnliches Eingreifen des Westens im Syrien-Konflikt beeinträchtigt sieht. Wenn Russland einlenkt, dann wird China wohl nicht isoliert sein wollen. Die Frage ist also auch, wann Russland die letzte Kontrolle über Assad und Damaskus verliert oder seine Machtinteressen der Solidarität mit der Weltgemeinschaft unterordnet.

Die Europäische Union gibt sich, mehr oder weniger einig, diplomatische Mühe, verhängt Sanktionen gegen das Assad-Regime, verschärft Sanktionen, um ein Waffenembargo gegen Assad durchzusetzen, und trifft Vorbereitungen für die Zeit nach Assad. Das alles wirkt eher halbherzig und beeindruckt bisher weder Assad noch die Opposition wirklich. Die EU setzt, unbeirrt vom Scheitern, weiter auf die Realisierung des Friedensplans von Kofi Annan, wird dabei eher als außenpolitischer Tiger ohne scharfe Zähne wahrgenommen und kann über humanitäre Hilfsmaßnahmen hinaus zur Linderung des Leids der Bevölkerung keinen wesentlichen Beitrag leisten. Die teilweise scharfe Rhetorik wirkt da unglaubwürdig.

Die Medien begleiten den Bürgerkrieg sehr engagiert, natürlich auf der Seite der „Guten“. Und natürlich werden Maßnahmen gefordert, die dem "Morden" ein Ende bereiten. Man schreibt zwar, dass in Syrien Bürgerkrieg herrscht, kommentiert aber so als ob es nur eine Gewalt anwendende Kriegspartei gäbe, das Regime. Die Bewaffnung der Opposition und eine militärische Intervention werden da am häufigsten als mögliche Lösungen ins Feld geführt. Und die Meinungsmache dreht sich hauptsächlich um Fragen wie: "Wann wird der blutige Diktator fallen?", "Wo geht Assad mit seiner Familie ins Exil?", "Sind Assads Tage gezählt?", "Kommt es zum Showdown in Aleppo?" "Wird es in Aleppo das befürchtete Massaker der regimetreuen Truppen an der Bevölkerung geben?" und viele Plattheiten, Unterstellungen und Mutmaßungen mehr. Die Medien zeigen Bilder mit den obligatorischen Blutlachen und mutmaßen ausschweifend über die vermeintlichen Handlungen der syrischen Streitkräfte und nehmen sich dann lapidar aus der Verantwortung mit dem Hinweis, dass die Herkunft, Authentizität der Bilder und Berichte leider nicht überprüft werde könne, gestalten aber Meinung massiv in ihrem Sinne. Machtpolitische Zusammenhänge, geostrategische Ãœberlegungen, oder gar die Frage, wer denn möglicherweise nach Assad mit welchem Ziel und welchen Mitteln das Wohl der syrischen Bevölkerung wie gestalten und verantworten sollte, werden nur selten erörtert. Denn es gibt durchaus viele Menschen in Syrien, die eine tiefsitzende Angst vor einer Zeit nach Assad haben, wie z.B. die Schiiten, die Alawiten und die christliche Minderheit. Die Medien informieren sehr einseitig und unzureichend.

Ein Trauerspiel ist aber auch, wie offensichtlich naiv und teilweise ahnungslos die Diskussion um den Syrien-Konflikt in den Medien und in der politischen Öffentlichkeit geführt wird. Da dreht sich alles um die Frage ob und wann das syrische Volk von einem Diktator befreit wird, der seine eigenen Bürger "abschlachten" lässt. Dabei spielt das Wohl des syrischen Volkes bei den geo- und machtpolitischen Ãœberlegungen der Mächte im Weltsicherheitsrat wohl eine eher nachgeordnete Rolle. Denn es geht um Konfliktlinien, um Einflussmöglichkeiten nach einem möglichen Sturz des derzeitigen Regimes. Es geht um Öl- und Gasleitungen, die Teile der Golfstaaten sowie Saudi Arabien mit dem östlichen Mittelmeer verbinden sollen und dann teilweise über syrisches Gebiet führen müssten. Und während es dem Westen - allen voran den USA – um den Erhalt der weitgehenden politischen und ökonomischen Einflussmöglichkeiten geht, streben Russland und China als größte Mächte Asiens grundsätzlich eine stärkere machtpolitische Stellung im Nahen und Mittleren Osten an und wollen in dieser konfliktträchtigen Schlüsselregion einen Fuß in der Tür haben.

Und es geht machtpolitisch um die grundsätzliche Frage von Interventionen. Bisher haben hauptsächlich die USA militärisch interveniert, wenn sie es politisch für geboten hielten, mit oder ohne Kriegserklärung, mit oder ohne UN-Mandat. Die einzige Supermacht mit den entsprechenden militärischen Fähigkeiten konnte das und Russland und China hatten dem nichts entgegenzusetzen. Heute sind die USA zu solchen Interventionen nur noch eingeschränkt befähigt und schon deswegen sehr zurückhaltend, wenn es um ein mögliches militärisches Eingreifen in Syrien geht.

Russland und China sehen im Syrien-Konflikt nun eine Möglichkeit, jeglicher militärischer Intervention durch den Westen die Stirn zu bieten – und ein dreimaliges Veto im Weltsicherheitsrat ist ein deutliches Zeichen – und ein „Interventionsverbot für raumfremde Mächte“ durchzusetzen. Mit einem solchen Interventionsverbot wäre der Einfluss der asiatischen Großmächte in den eurasischen Regionen gestärkt und die politischen und ökonomischen Einflussmöglichkeiten der USA wären beeinträchtigt. In diesem Lichte wird es hochinteressant bleiben, die Debatten und das Taktieren im Weltsicherheitsrat zu beobachten. Dem syrischen Volk wird dadurch allerdings nicht geholfen.

Im Sinne des leidenden syrischen Volkes müssen aber Lösungen zur Konfliktbeilegung gefunden werden. Wenn der Annan-Friedensplan nicht funktioniert, dann muss ein neuer, mit Russland frühzeitig abgestimmter Plan schnellstmöglich erarbeitet werden. Es wird wenig nutzen, die Opposition mit weiteren Waffenlieferungen zu unterstützen und damit den Bürgerkrieg anzuheizen und zu verlängern, denn dadurch vergrößert sich das Leiden der Bevölkerung, verursacht durch beide Bürgerkriegsparteien. Das Trauerspiel in Syrien muss in beiderseitigem Einvernehmen beendet werden.

(29.07.2012)

 

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