Hans-Heinrich Dieter

Falsche Hoffnungen   (12.06.2022)

 

Auf dem EU-Westbalkangipfel am 06.10.2021 im slowenischen Brdo hat die EU bekrĂ€ftigt, den Erweiterungsprozess fĂŒr die Westbalkanstaaten zu unterstĂŒtzen. „Trotz all der Schwierigkeiten sind wir uns einig, dass diese LĂ€nder zur EuropĂ€ischen Union gehören“, betonte Bundeskanzlerin Merkel damals nach den GesprĂ€chen, zu denen auch die sechs PartnerlĂ€nder des Westbalkan eingeladen waren: Albanien, Bosnien und Herzegowina, Serbien, Montenegro, Nordmazedonien und Kosovo.

Merkel hat ĂŒber die Jahre starken Einfluss auf die EU hinsichtlich des Erweiterungsprozesses genommen, mal im Sinne eines Kuschelkurses, mal mit „Zuckerbrot und Peitsche“. Und so wurde in der EU unter dem Einfluss Merkels großzĂŒgig ĂŒber die grassierende Korruption, die GĂ€ngelung der Justiz, die Knebelung der Medien und den insgesamt unzureichenden Entwicklungsfortschritt der Westbalkanstaaten hinweggesehen. Schließlich wollte man die politischen Partner auf dem Westbalkan nicht verĂ€rgern und auch nicht dem Einfluss Russlands und Chinas ĂŒberlassen. Und so hat Serbiens StaatsprĂ€sident Vucic, dem nicht nur von der Opposition eine autokratische Politik zur Last gelegt wird, regelmĂ€ĂŸig seine sehr enge persönliche Freundschaft mit Merkel hervorgehoben – jetzt spricht er eher von seiner engen Freundschaft mit Putin!

Im MĂ€rz 2022 besuchte Außenministerin Baerbock die Westbalkanstaaten und hat vorwiegend Mut gemacht sowie Hoffnung auf EU-Beitrittskandidaturen geweckt. Und in dieser Woche hat nun auch Kanzler Scholz den WestbalkanlĂ€ndern einen Antrittsbesuch gemacht. Scholz will fĂŒr StabilitĂ€t auf dem Westbalkan sorgen und sich fĂŒr einen schnellen EU-Beitritt einsetzen: „Alle seine LĂ€nder mĂŒssen kĂŒnftig auch zur EuropĂ€ischen Union gehören“, sagte Scholz bereits nach einem Treffen mit dem MinisterprĂ€sidenten des Kosovo und betonte, die Region gehöre zu Europa!

Albanien, Nordmazedonien, Montenegro und Serbien haben den Status von EU-Beitrittskandidaten. Bosnien-Herzegowina und Kosovo sind als „potenzielle“ Kandidaten weiter entfernt von einem Beitritt. Scholz kĂŒndigte eine weitere Westbalkan-Reise in der zweiten JahreshĂ€lfte an. Er werde zudem die sechs Westbalkan-LĂ€nder zu einem Treffen im Rahmen des „Berliner Prozesses“ zur Förderung der regionalen Zusammenarbeit einladen. Scholz versteht sich dabei als „Hoffnungsmacher“ – er hat damit aber keinen wirklichen Erfolg!

Serbien sitzt auf „zwei StĂŒhlen“. Der eine Stuhl ist der EU-Stuhl, der EU-Gelder bringt. Der andere Stuhl ist der Putin-Stuhl, der preiswerte Energieversorgung sichert. Deswegen beteiligt sich Serbien auch nicht an den EU-Sanktionen gegen Russland und setzt sich so zwischen die StĂŒhle. Serbien erkennt außerdem die UnabhĂ€ngigkeit des Kosovo nicht an und verhindert damit grundsĂ€tzlich EU-Beitrittsverhandlungen mit der ehemaligen sĂŒdserbischen Provinz. Nordmazedonien hat sich am stĂ€rksten auf die EU zubewegt, aber das EU-Mitglied Bulgarien blockiert den Beginn von BeitrittsgesprĂ€chen und gedenkt nicht, seine Haltung zu Ă€ndern.

Bundeskanzler Scholz hat auf seiner Reise versprochen, dass man von deutscher und europĂ€ischer Seite den Beitritts-Prozess mit neuem „Ehrgeiz und Elan“ vorantreiben werde: „Viele LĂ€nder, die in den letzten Jahren vielleicht ein bisschen zurĂŒckhaltender geschaut haben, schauen jetzt doch etwas zuversichtlicher auf den Prozess. Das wollen wir gerne weiter unterstĂŒtzen.“ Damit hat Scholz einmal mehr falsche Hoffnungen geweckt, denn die Westbalkanstaaten sind weiterhin noch weit entfernt von der ErfĂŒllung der Beitrittskriterien und die skeptische Ablehnung einiger EU-Mitglieder – insbesondere Frankreichs - ist noch sehr ausgeprĂ€gt.

NatĂŒrlich hat der Westbalkan seit dem Ukraine-Krieg fĂŒr die EU enorm an Bedeutung gewonnen, die Frage ist nur, ob „beschleunigte EU-Beitritte“ und Erweiterungen der EU einen Machtzuwachs und eine grĂ¶ĂŸere globale Bedeutung ermöglichen. Bei dem derzeitigen desolaten Zustand der EU ist eher eine negative Entwicklung zu erwarten. Denn vor Erweiterungen brauchen wir eine ĂŒberlebensfĂ€hige und handlungsstarke EU. Dazu sind echte Strukturreformen erforderlich.

Und in diesem Zusammenhang sollte die EU zu einer realitĂ€tsnahen, ehrlichen Erweiterungspolitik finden und angesichts der Entwicklung der TĂŒrkei hin zu einem autokratischen PrĂ€sidialsystem die Beitrittsverhandlungen mit dem Ziel einer Vollmitgliedschaft endlich beenden und die EU-Zahlungen an die TĂŒrkei fĂŒr Beitrittshilfen und Strukturentwicklung sofort einstellen. An die Stelle des Beitrittsprozesses sollte die Erarbeitung eines Vertrages treten, der die zukĂŒnftige politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem fĂŒr Europa durchaus wichtigen Pufferstaat zu Asien und der arabischen Welt grundlegend regelt.

Ein solches Verfahren muss auch bei anderen Beitrittskandidaten - wie den Westbalkan-Staaten - angewandt werden, die aufgrund der politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen absehbar keine realistische Chance haben, mittelfristig Vollmitglieder der EU zu werden. Ein solches Verfahren ist ehrlicher, erspart der jeweiligen Bevölkerung EnttĂ€uschungen und ermöglicht sehr viel frĂŒher eine fĂŒr beide Seiten fruchtbringende Zusammenarbeit.

Die EU muss handlungsfĂ€hig werden und darf nicht im Dauerkrisenmodus verharren. Dazu muss die EU ihre Struktur grundlegend Ă€ndern und darf sich nicht ĂŒberdehnen. Gleichzeitig darf die EU sich nicht abschotten, sondern muss eine enge politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit einer tiefer integrierten Kern-EU mit europĂ€ischen Partnern auf der Grundlage von VertrĂ€gen gewĂ€hrleisten.

Der jĂŒngste Vorschlag von Macron fĂŒr eine neue „politische europĂ€ische Gemeinschaft“, die es der Ukraine und anderen LĂ€ndern ermöglichen wĂŒrde, vor einer Mitgliedschaft enger mit der EU zusammenzuarbeiten, sollte intensiv diskutiert werden. Es sollten neue politische Kooperationsformen gefunden werden, um noch nicht beitrittsfĂ€hige LĂ€nder an die EU zu binden und engere Zusammenarbeit zu ermöglichen.

(12.06.2022)

 

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