Hans-Heinrich Dieter

Entmachteter Bundestag   (18.10.2020)

 

Nach Grundgesetz Art. 20 geht alle Staatsgewalt vom Volke aus. In unserer parlamentarischen Demokratie hat das Parlament die Regierung im Auftrag des Volkes zu kontrollieren. Das Parlament wird gebildet durch die gewählten Volksvertreter. Die Regierung darf das Parlament nicht beeinflussen. Die Abgeordneten werden für parlamentarische Arbeit zum Wohle des deutschen Volkes bezahlt. In ihrer Parlamentsarbeit sind sie nach dem Grundgesetz ihrem Gewissen verantwortlich und nicht der jeweiligen Partei. Verfahren direkter Demokratie sind auf Bundesebene – aus guten Gründen – auf Ausnahmen beschränkt. Die Praxis unserer parlamentarischen und repräsentativen Demokratie hat sich aber vom Grundgesetz entfernt - mit negativer Auswirkung.

Denn zu den Zeiten der Großen Koalition hat das Parlament unter den Bundestagspräsidenten Lammert und Schäuble die Regierung Merkel nur sehr unzureichend kontrolliert und korrigiert. Den Höhepunkt dieser negativen Auswirkungen markiert das Staatsversagen im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise 2015, als der Bundestag das selbstherrliche Handeln Merkels mehrheitlich abgenickt und sich so im Hinblick auf den unverantwortlichen Kontrollverlust des Staates zum Schaden seiner Bürger mitschuldig gemacht hat.

Und in der Bewältigung der Corona-Krise war das vom Parlament unzureichend kontrollierte politische Verhalten der Kanzlerin ähnlich. Am 25. März 2020 hat der Bundestag eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ ausgerufen, um der Exekutive auf der Basis des Infektionsschutzgesetzes umfangreiche Kompetenzen zu verleihen, die seither für immer neue Verordnungen und Bund-Länder-Absprachen – ohne Parlamentsbeteiligung - genutzt werden. Das ist verfassungsrechtlich sehr bedenklich!

Dabei ist es sicherlich immer noch zu früh, beurteilen zu wollen, ob die jeweiligen sehr einschneidenden Maßnahmen wie der Lockdown im Frühjahr oder die sehr weitgehenden Freiheitseinschränkungen für die Bürger richtig oder falsch waren oder ob dabei die erwartbaren katastrophalen Auswirkungen auf die Wirtschaft hinreichend berücksichtigt wurden. Tatsache ist aber auch, dass die Kanzlerin den kakophonischen Einschätzungen und Bewertungen der virologischen und epidemiologischen Experten offensichtlich relativ blind vertraut und es deswegen auch versäumt hat, das Parlament hinreichend zu beteiligen und ihre Maßnahmen der Bevölkerung zu erläutern sowie plausibel zu begründen. Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Einschätzung der Experten häufiger als unzutreffend herausgestellt haben oder von andersdenkenden Experten widerlegt wurden.

Und nun stellt sich heraus, dass unsere Wirtschaft schon jetzt massiv und teilweise nachhaltig geschädigt ist und der mit verantwortungsarmem „Wumms“ angehäufte Schuldenberg unsere Enkel sehr stark belasten wird. Die damit verbundene Schuld will natürlich kein Politiker gerne mittragen und die Parlamentarier der Regierungsparteien vermittelten den Eindruck, dass sie mit ihrer stark eingeschränkten Verantwortung ganz zufrieden waren und sich lieber um die Verhinderung einer tauglichen Wahlrechtsreform kümmerten als um die Aufhebung ihrer „Ermächtigungsverordnung“. Und Merkel wollte sogar auch lästige Diskussionen unterbinden – denn sie ist ja in einem sozialistischen System sozialisiert und hat ja gelernt: „die Partei hat immer recht“ – und sie hat ihre Gesinnung dadurch geoutet, dass sie dringend notwendige thematische Auseinandersetzungen doch tatsächlich als „Öffnungsdiskussionsorgien“ anmaßend verunglimpft hat! Das wird ihr hoffentlich heftig auf die Füße fallen und die dringend notwendigen parlamentarischen Diskussionen befeuern. Roger Köppel, Verleger und Chefredakteur der Schweizer Wochenzeitung „Die Weltwoche“ sagt in dem Zusammenhang einige treffende, wenn auch leicht überpointierte Sätze: „Merkels Satz, sie verbiete sich Öffnungsdiskussionsorgien, ist kompletter Nonsens.“ – und - „Wenn es jetzt etwas braucht, dann sind es Diskussionsorgien. Wenn die Regierungen derartige Macht in ihren Händen versammeln, dann brauchen wir Diskussionen. Demokratie ist die institutionalisierte Diskussionsorgie.“ -und – „Die Demokratie wurde flächendeckend narkotisiert. Wo war da eigentlich der Aufschrei der Opposition?“

Parlamentarische Demokratie darf keine „Denkverbote“, „Totschlagargumente“ und auch keine angebliche „Alternativlosigkeit“ hinnehmen. In einem verantwortungsvoll entwickelten Konzept wird immer auch in Alternativen gedacht und zumindest ein aussichtsreicher Plan B erarbeitet. Verantwortungsvolle Politik setzt intensive Sachdiskussion voraus und ist den Bürgern erklärungspflichtig!

Ein „Aufschrei“ der Opposition gab es nicht, wohl aber ein „Aufbäumen“. Die AfD hat sehr früh Anträge gestellt, um die Parlamentsbeteiligung zu gewährleisten – diese Anträge wurden natürlich abgeschmettert. Ebenfalls recht früh, am 21. April 2020, verlangten die Grünen größere Parlamentsrechte. Sie beantragten, im Infektionsschutzgesetz die Zustimmung von Bundestag und Bundesrat zu den Verordnungen und Anordnungen zu verankern. Später forderten die Grünen, dass der Bundestag einen unabhängigen Pandemiebeirat einberufen solle, der alle Maßnahmen laufend bewerten solle, denn „Die pauschalen Ermächtigungen für die Bundesregierung beim Infektionsschutz in der Corona-Pandemie gehen viel zu weit“, meinte die rechtspolitische Fraktionssprecherin Katja Keul. Auch die FDP hat sich für die Parlamentsrechte stark gemacht – aber die ist leider nicht sehr stark und wird auch von den Medien rechts liegen gelassen.

Dann haben zahlreiche Verfassungsrechtler beanstandet, dass die Rechte der Exekutive in Coronazeiten stark überdehnt werden. Sie haben den Bundestag stark kritisiert: Die Parlamentarier zeigten eine Tendenz, in Zeiten eingeschränkter Grundrechte ihre Funktion nicht mehr wahrzunehmen. Die staatlichen Eingriffe, nicht die Freiheitsrechte, bedürften der Rechtfertigung. Damit fordern die Staatsrechtslehrer alle Abgeordneten des Bundestages auf, der Regierung permanent die Frage zu stellen, ob die Grundlage für die Beschränkungen – die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ – noch vorliegt. Wenn das nicht der Fall ist, muss der parlamentarische „Ausnahmezustand“ sofort beendet werden.

Und nun warnt auch Bundestagsvizepräsident Kubicki vor negativen Folgen für die Demokratie, wenn wichtige Beschlüsse zur Bekämpfung der Corona-Pandemie nicht vom Parlament gefasst werden. Der SPD-Rechtsexperte Post meint, dass seit fast einem Dreivierteljahr die Regierung in Bund, Ländern und Kommunen Verordnungen erlasse, ohne dass auch nur einmal ein gewähltes Parlament darüber abgestimmt habe. CDU-Fraktionsvize Linnemann skizziert die beunruhigende Entwicklung so: Der Bundestag müsse wieder selbstbewusster seine Rolle als Gesetzgeber einfordern und dann aber auch ausfüllen.

Es wird hohe Zeit, dass die Abgeordneten des Deutschen Bundestages ihre Pflichten zur Kontrolle des Regierungshandelns zum Wohle der Bürger wieder verantwortungsbewusst wahrnehmen und das - auch durch die vermurkste Wahlrechtsreform - verlorene Vertrauen zurückgewinnen!

(18.10.2020)

 

 

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