Hans-Heinrich Dieter

Ukraine schnell in die EU?   (21.04.2022)

 

Die Ukraine ist ein Nachbarland der Europäischen Union (EU) und gehört zu deren möglichen Beitrittskandidaten. Bereits 2004 hatte die Ukraine erklärt, dass sie eine baldige EU-Mitgliedschaft anstrebe. Am 9. September 2008 trafen die Ukraine und die EU in Paris eine Vereinbarung für ein Assoziierungsabkommen. Seitdem wurde die Zusammenarbeit noch vertieft. Der völkerrechtswidrige russische Angriff auf die Ukraine hat die Lage Europas dramatisch verändert – und den ukrainischen Beitrittswunsch verstärkt.

Am 28. Februar 2022 unterzeichnete Präsident Selenskyj eine Bewerbung für die EU-Mitgliedschaft. Am gleichen Tag unterstützten die Präsidenten von Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, der Slowakei, Slowenien und Tschechien in einem offenen Brief den ukrainischen Beitrittswunsch. Am 1. März sprachen sich auch die Abgeordneten des EU-Parlaments mit einer überwältigenden Mehrheit für die Aufnahme von Beitrittsgesprächen aus.

Bei einem Besuch in Kiew am 11. April 2022 bekräftigte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, dass die Ukraine zur „europäischen Familie“ gehöre. Sie überreichte dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj einen Fragebogen, dessen Beantwortung sie in die Lage versetzen soll, zu entscheiden, ob sie die Ukraine als EU-Beitrittskandidaten empfiehlt. Von der Leyen erklärte zudem, dass dieses Verfahren, der normalerweise mehrere Jahre dauert, nur einige Wochen in Anspruch nehmen soll. Am 18. April übergab Selenskyj den ausgefüllten ersten Teil des Fragebogens zu wirtschaftlichen und politischen Themen an den Botschafter der Europäischen Union in Kiew.

Nun muss noch der zweite Teil des Fragebogens zur Übernahme des EU-Rechts durch die Ukraine beantwortet werden, bevor die Kommission eine Bewertung des Aufnahmeantrags vornehmen kann. Bis zur Vollmitgliedschaft sind noch zahlreiche Bedingungen zu erfüllen - und das kann durchaus noch zehn Jahre dauern. Damit ist der ukrainische Präsident Selenskyj natürlich nicht einverstanden und fordert eine sofortige Aufnahme seines Landes als Vollmitglied in die Europäische Union.

Mit genügender Grundintelligenz sollte Selenskyj wissen, dass es schon für die Aufnahme förmlicher Beitrittsverhandlungen eines weiteren, einstimmigen Beschlusses der Mitgliedstaaten bedarf. In diesen Beitrittsverhandlungen geht es darum festzulegen, welche Reformen der Beitrittskandidat unternehmen muss, um in der EU wertebasiert und konstruktiv mitwirken zu können.

Konkret geht es um die Erfüllung der sogenannten „Kopenhagener Kriterien“:

Der Beitrittskandidat muss über stabile Institutionen verfügen, die der Demokratie und der Rechtstaatlichkeit verpflichtet sind.

Er muss über eine Marktwirtschaft verfügen, die in der Lage ist, dem Wettbewerbsdruck innerhalb der EU standzuhalten.

Er muss den gesamten Rechtsbestand der EU, den sogenannten ,,Acquis Communautaire“, in sein eigenes Recht integrieren. Also alle Richtlinien, Verordnungen, internationale Abkommen, Handelsverträge usw.

Und schließlich muss die EU auch fähig sein zur Aufnahme eines weiteren Mitgliedslandes.

Die Erfüllung dieser Kriterien ist eine „conditio sine qua non“ und davon ist die Ukraine noch meilenweit entfernt. Deswegen war es nicht hilfreich, dass von der Leyen bei ihrem letzten Besuch in Kiew gefühlsduselig erklärte, dass dieses Verfahren, das normalerweise mehrere Jahre in Anspruch nimmt, im Falle der Ukraine nur einige Wochen dauern soll.

Die EU sollte unter Berücksichtigung der realen Voraussetzungen besser bald Verhandlungen führen, ohne falsche Hoffnungen zu wecken. Deswegen darf die EU in der gegenwärtigen Lage der Ukraine lediglich eine Beitrittsperspektive eröffnen und ihr einen Kandidatenstatus verleihen, der weitreichende politische und wirtschaftliche Reformen erfordert, und die Rechtsstaatlichkeit sowie die erfolgreiche Bekämpfung der ausgeuferten Korruption in der Ukraine voraussetzt. Vor einer Vollmitgliedschaft muss die Ukraine alle Standards unserer europäischen Wertegemeinschaft erfüllen! Und in diesem Zusammenhang muss die EU auch bei Beitrittsgesuchen, etwa von Georgien oder Moldau, gleiches Maß und Methode geltend machen.

Darüber hinaus sollte die EU die Erfahrungen des Ukraine-Krieges zur Grundlage von tiefgreifenden Reformen machen. Solche Reformen bedürfen einer nüchternen und objektiven Lagefeststellung. Im Ukraine-Krieg zeigte sich die EU bisher geschlossen wie noch nie und erscheint deswegen handlungsfähig wie selten zuvor – die Geschlossenheit beginnt aber zu bröckeln. Darüber hinaus muss die Lage der Europäischen Union sachlich begründet und realitätspolitisch orientiert leider als desolat bezeichnet werden. Diese wenig zufriedenstellende Lage ist auch dadurch entstanden, dass die EU bereits heute viele untaugliche Mitglieder hat. Polen und Ungarn haben Rechtsstaatlichkeitsprobleme und verhalten sich unsolidarisch. Bulgarien und Rumänien wurden als Mitglieder aufgenommen, obwohl sie die Voraussetzungen nicht erfüllten. Griechenland hat sich den Beitritt zum Euro erschwindelt etc. etc. Das alles hat zu einer überdehnten und mehrfach gespaltenen EU geführt, die strukturell nicht handlungsfähig ist! In diesem Zustand und unter solchen politischen Rahmenbedingungen plant die EU, der Türkei sowie Albanien, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien, Kosovo und Bosnien-Herzegowina bis 2027 Finanzhilfen – als „Heranführungshilfen“ - in Höhe von knapp 14,2 Milliarden Euro zu zahlen. Das ist Verschwendung von EU-Geldern!

Denn wir brauchen keine erweiterte Europäische Union, sondern eine solidarische, überlebensfähige, handlungsstarke und außenpolitisch glaubwürdige EU. Das erfordert aber weniger euphorische Reden zur Weiterentwicklung auf der Basis der derzeitigen Struktur, sondern echte Struktur-Reformen, um die EU wirklich handlungsfähig zu machen.

Und deswegen sollte die EU endlich auch zu einer realitätsnahen sowie ehrlichen Erweiterungspolitik finden und angesichts der Entwicklung der Türkei hin zu einem autokratischen Präsidialsystem die Beitrittsverhandlungen mit dem Ziel einer Vollmitgliedschaft endlich beenden und die EU-Zahlungen an die Türkei für Beitrittshilfen und Strukturentwicklung sofort einstellen. An die Stelle des Beitrittsprozesses sollte die Erarbeitung eines Vertrages treten, der die zukünftige politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem für Europa durchaus wichtigen Pufferstaat zu Asien und der arabischen Welt grundlegend regelt.

Ein solches Verfahren muss auch bei anderen Beitrittskandidaten - wie den Westbalkan-Staaten - angewandt werden, die aufgrund der politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen absehbar keine realistische Chance haben, mittelfristig Vollmitglieder der EU zu werden. Und wir sollten uns wirklich nicht mit so russophilen und NATO-feindlichen Ländern wie Serbien belasten! Wir haben schon den Quertreiber Orban und brauchen nicht auch noch einen Putinfreund Vucic, der im Zusammenhang mit dem Kosovo nicht kompromissfähig ist. Die EU muss sich ehrlich machen und darf keine falschen Erwartungen wecken!

Die Wertegemeinschaft EU muss insgesamt außenpolitisch glaubwürdiger und handlungsfähiger werden und das geht nur mit geeigneten Mitgliedern – da darf es keine Abstriche geben!

(21.04.2022)

 

 

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