Hans-Heinrich Dieter

Sehr wenig dazugelernt! (10.11.2011)

  

Illusionsbeladen, ohne wirklichen Plan, ohne Konzept, ohne nationale sicherheitspolitische Strategie und ohne eine tragfähige Strategie der internationalen Staatengemeinschaft hat sich Deutschland im Dezember 2001 mit der Beteiligung von 1200 deutschen Soldaten an der Unterstützungstruppe ISAF in Kabul auf eine sehr komplexe Friedensmission eingelassen.

Seitdem ist das deutsche politische Engagement gekennzeichnet durch Realitätsverweigerung, Beschönigung, unwahre Information der Bevölkerung, unzureichende Wahrnehmung der übernommenen Führungsverantwortung in der Polizeiausbildung, unzureichender Bereitstellung von Personal durch das federführende Auswärtige Amt, Verweigerung der Zusammenarbeit durch das Entwicklungsministerium unter der Leitung von Wieczorek-Zeul und vorwiegend innen- und parteipolitisch orientierte Diskussion. Zusammengefasst kann man das als allgemeines politisches Führungsversagen werten.

Augenfälligster Ausdruck dieses politischen Führungsversagens ist die über zehn Jahre andauernde Diskussion über Umfangszahlen, Obergrenzen, Kontingentstärken, ohne damit konkrete Zielvorstellungen und sicherheitspolitische Planungen zu verbinden. Dadurch wurde die Diskussion oberflächlich und halbherzig und die Politiker wurden den hohen Ansprüchen des Primats der Politik nicht gerecht. Spätestens seit dem letzten Hinterbänkler klar geworden sein sollte, dass deutsche Staatsbürger sich in Afghanistan unter zumindest kriegsähnlichen Bedingungen im Auftrag des deutschen Bundestages für die Freiheit des afghanischen Volkes engagieren, könnte man mehr Verantwortungsbewusstsein erwarten.

Inzwischen hat die Bundeskanzlerin ein plakatives Ziel vorgegeben: Übergabe in Verantwortung. Natürlich hat Deutschland nicht formuliert, was das konkret in Zahlen, Daten, Fakten und nachprüfbaren Ergebnissen heißt, denn daran müsste man sich ja messen lassen, wenn es darum geht, deutsche Truppen im Konzert mit der internationalen Staatengemeinschaft bis 2014 abzuziehen. Wir haben immer noch keinen Plan, kein Konzept, keine nationale Strategie für unser in Kürze nachlassendes Engagement. Wir haben also nichts dazugelernt.

Das wird heute wieder sehr deutlich, wenn es um die Abzugsplanung aus Afghanistan geht. In der F.A.Z heißt es dazu: " Die Bundesregierung will im nächsten Jahr mit einem ersten Teilabzug der Truppen aus Afghanistan beginnen. Das deutsche Bundeswehrkontingent soll von derzeit rund 5230 zunächst auf 4900 und im Laufe des Jahres auf 4400 Soldaten zurückgeführt werden. Darauf haben sich nach Informationen dieser Zeitung die zuständigen Fachminister und Bundeskanzlerin Merkel (CDU) am Mittwoch im Bundeskanzleramt verständigt." Außenminister Westerwelle hat sich offenbar bei diesen Zahlenspielen durchgesetzt, denn der Verteidigungsminister hatte noch kürzlich gesagt, es dürfe keine „übertriebene Verkleinerung“ des Kontingents nur aus „politischer Symbolik“ geben.  Nun kommentiert das Verteidigungsministerium, der aktuelle Kompromiss sei militärisch noch vertretbar und politisch zustimmungsfähig. Das heißt im Klartext, dass die Arithmetik militärisch nicht verantwortbar ist. SPD-Fraktionschef Steinmeier freut sich: „Dies ist der erste wichtige Schritt, damit das Mandat auch weiterhin von einer breiten Mehrheit im Parlament getragen werden kann.“ Und der Grüne-Verteidigungsexperte Omid Nouripour spricht von einer „riesigen Augenwischerei der Bundesregierung“ und fordert eine deutlich stärkere Truppenreduzierung auf 3900 Soldaten bis Anfang 2013. Dass der Verteidigungsminister die Truppenreduzierungen zum Teil unter den Vorbehalt der Entwicklung der Sicherheitslage stellt, kommentiert Nouripour: „Das ist windelweich. Ich sehe in dem Vorschlag eine riesige Mogelpackung und mehr nicht.“

Eindringlicher kann sich Politik nicht entlarven. Es geht wiederum nur um Zahlen. Keiner diskutiert öffentlich konkret erreichte Ziele, nachprüfbare sicherheitspolitische Erfolge und belegbare Aufbauergebnisse. Der Außenminister ist als Federführender daran interessiert, dass er seine Zahlenvorstellungen - auch gegen fachliche Einwände - durchsetzt, der  SPD reicht es, wenn man ihren, nur an Zahlen festgemachten, alten Vorschläge ein wenig entgegenkommt und das parteipolitisch als Erfolg verkauft werden kann, und die Grünen machen mit unbegründbaren Phantasiezahlen populistisch Opposition pur. Wir sind dabei, den Truppenabbau genauso illusionsbehaftet und inhaltsleer zu diskutieren wie das blauäugige Engagement in 2001.

Der Vorschlag wird im Dezember im Kabinett diskutiert werden und im Januar 2012 dem Bundestag zur Entscheidung zugeleitet werden. Es ist zu hoffen, dass die Diskussion bis dahin an Substanz gewinnt, das Thema aus dem langsam beginnenden Wahlkampf herausgehalten werden kann, die Volksvertreter sich nicht in einer populistischen Debatte um den größtmöglichen und baldmöglichen Truppenabzug gefallen und genug Politiker  sich der Verantwortung für das afghanische Volk bewusst werden. Denn es geht um nicht mehr oder weniger als die Vermeidung eines neuen Bürgerkrieges nach Abzug der Truppen der internationalen Staatengemeinschaft.

Sehr hilfreich wäre es für eine gehaltvolle und verantwortungsbewusste sicherheitspolitische Diskussion, wenn konkret formuliert und vom deutschen Bundestag verabschiedet würde, was genau "Übergabe in Verantwortung" heißt. Mit einer solchen konkreten Perspektive würde der Bundestag auch dem hohen und in vielerlei Hinsicht erfolgreichen Engagement der Soldaten der Bundeswehr und der zivilen deutschen Bürger in Afghanistan gerecht.

(10.11.2011)

 

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