Hans-Heinrich Dieter

Pulverfass Afghanistan (23.02.2012)

 

Gegen Dummheit kämpfen selbst Götter vergebens. Die radikalislamistischen Taliban nutzen jegliche Dummheit ihrer Feinde geschickt und skrupellos aus.

Die Verbrennung von Koran-Ausgaben durch US-Soldaten hat in Afghanistan landesweit tausende muslimische Bürger zu Demonstrationen und teilweise gewaltsamen Protesten auf die Straßen getrieben, die ersten ISAF-Soldaten wurden getötet und die Bundeswehr räumt vorzeitig den Stützpunkt Taloquan. Entschuldigungen von ISAF-Oberbefehlshaber Allen, Verteidigungsminister Panetta und Präsident Obama blieben erfolglos und konnten die Lage bisher nicht beruhigen. Die Taliban fordern mit Erfolg die Demonstranten auf, Ausländer und Besatzer anzugreifen und zu töten. Und am morgigen Freitag wird die Schändung der heiligen Schrift des Islam in den Moscheen Thema der Imame – mit den zu erwartenden Auswirkungen. Die Lage in Afghanistan ist angespannt.

Dabei sprechen die NATO und auch das deutsche Verteidigungsministerium davon, dass die Taliban in der Defensive seien und sie verweisen auf Fortschritte in der Gewährleistung der Sicherheit der Bevölkerung, die den schrittweisen Abzug und die „Übergabe in Verantwortung bis 2014“ rechtfertigen sollen. Die UN-Mission in Afghanistan beurteilt die Lage weitaus weniger rosig und verweist auf einen Anstieg der Selbstmordattentate, der durch ISAF-Luftangriffe getöteten Zivilisten sowie der insgesamt getöteten afghanischen Zivilisten gegenüber 2010. Und die Lage wird auch nicht dadurch besser, dass mehr als 75% der Zivilisten durch Taliban ermordet wurden oder deren Anschlägen zum Opfer fielen. Die Vereinten Nationen scheinen die Lage realistischer zu beurteilen.

Die Wut über die Koranverbrennung ist für die Demonstranten ein - möglicherweise willkommener - Anlass auf die Straße zu gehen und teilweise Gewalt auszuüben. Die Bevölkerung ist im elften Jahr des westlichen Engagements auch enttäuscht über das Wiedererstarken der Taliban, die nur unzureichend gewährleistete allgemeine Sicherheit und macht die afghanische Regierung sowie ISAF für mangelhafte Entwicklung der Lebensumstände, Hunger und weit verbreitete Armut verantwortlich. Die Propaganda und der Terror der Taliban finden fruchtbaren Boden und immer mehr Anhänger, die keine Alternative sehen. Die Auswirkungen, die ein dummes und unsensibles Verhalten westlicher Soldaten hat, zeigen, wie instabil die Lage in Afghanistan wirklich ist. Die Taliban füllen das Pulverfass ständig auf und erhöhen die Sprengkraft. Lunten gibt es in Afghanistan genug.

Wenn eine derart instabile Lage nicht unter Kontrolle gebracht wird, dann stehen mehr als zehn Jahre politisches, militärisches und soziales Engagement am Hindukusch schnell zur Disposition. Afghanistan - wenn es sich denn überhaupt noch helfen lassen will - braucht bis zum vollständigen Abzug der ISAF eine landesweit wirksame, leistungsfähige Staats- und Verwaltungsstruktur, sowie eine Wirtschaft, die beginnt wettbewerbsfähig zu werden, und eine legitimierte, nicht korrupte Regierung. Zunehmend eigenständig leistungsfähige Sicherheitskräfte müssen diese - bei optimistischer Betrachtung - immerhin mögliche Entwicklung absichern. Dazu muss das Pulverfass unter Kontrolle bleiben und die Lunten müssen ausgetreten werden. Das geht nicht, wenn man sich bis 2014 in Deckungen verbarrikadiert. Wenn es aber Staat, Verwaltung und Sicherheitskräften nicht gelingt, das Gewaltmonopol nicht nur zu beanspruchen sondern auch durchzusetzen, dann wird Afghanistan - grosso modo - wieder bei 2001 anfangen müssen, unter der Herrschaft der Taliban.

Die Lage ist instabil, die zukünftige Entwicklung ist nur schwer zu prognostizieren, aber die Weichen sind, meist innenpolitisch begründet und deswegen schwer veränderbar, auf zeitlich zementierte Abzugs-Termine und -Fahrpläne gestellt.

Diese gewaltsamen Demonstrationen sind Menetekel an der Wand. Sollten die Staaten der westlichen Welt noch Lagebeurteilungen anstellen, dann sollten sie sich jeweils fragen, ob sie der übernommenen Verantwortung bis 2014 und danach gerecht werden wollen und können.

(23.02.2012)

 

 

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