Hans-Heinrich Dieter

 

Hoffnung in Afghanistan (13.07.2012)

 

Die Taliban in Afghanistan sind derzeit ruhiger und weniger aggressiv, als das zu Beginn der Frühjahrsoffensive 2012 mit spektakulären Anschlägen in Kabul und landesweit zu erwarten war.

Im ehemals gefährlichsten Einsatzgebiet der Bundeswehr, Kundus, hat sich die Lage offenbar deutlich verbessert. Inzwischen konnte die Sicherheitsverantwortung in dieser Region sogar an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben werden. Das ist ein schöner Erfolg der Bundeswehr und ihrer Mitstreiter in der Nordregion.

Dieser Erfolg hat sicher mehrere Väter. Zum einen scheint die Bundeswehr sich weniger aufwändig sowie zeit- und kräfteintensiv in der „Deckung“ ihrer Lager zu organisieren und daher in der Region heute sehr viel präsenter zu sein als in der Zeit vor und nach dem verhängnisvollen Luftschlag vom September 2009. Darüber hinaus sind die afghanischen Sicherheitskräfte inzwischen teilweise so gut und einsatzbereit, dass sie Sicherheitsverantwortung übernehmen und Regionen kontrollieren können. Und letztlich zeigen die intensiven Operationen amerikanischer und deutscher Spezialkräfte gegen die Taliban, und mit Schwerpunkt gegen ihre Führer, Wirkung. Da kann man nur hoffen, dass diese positive Entwicklung anhält und bis Ende 2014 Rahmenbedingungen geschaffen werden können, die eine „Übergabe in Verantwortung“ im deutschen Verantwortungsbereich zulassen.

Die Taliban sind militärisch offensichtlich - in Regionen unterschiedlich - geschwächt, sie streben das offene und direkte Gefecht mit ISAF-Truppen nicht an, was allerdings ohnehin nicht ihrer Taktik entspricht, sie sind aber weder militärisch noch politisch „besiegt“ und können die Bevölkerung in ganz Afghanistan und vor allem auch afghanische Amtsträger mit Terroranschlägen in Angst und Schrecken versetzen und auch afghanischen Sicherheitskräften jederzeit Verluste zufügen. Darüber hinaus hat sich das Problem der Desertion afghanischer Sicherheitskräfte zu den Taliban wohl abgeschwächt, beseitigt ist es aber nicht. Und die Gesamtsicherheitslage wird durch die allgegenwärtige Korruption und das Drogengeschäft sehr negativ beeinflusst. Und vor allen Dingen sind die Taliban noch nicht bereit zur Teilnahme an Friedensgesprächen. Es gibt also - bei aller Hoffnung und Freude über kleine Erfolge - keinen Grund, sich zurückzulehnen und sich hauptsächlich auf den Rückzug zu konzentrieren. Die Sicherheitslage ist und bleibt absehbar fragil und verlangt seitens der ISAF nicht nur Training und Unterstützung für die afghanischen Sicherheitskräfte, sondern auch die Bereitschaft und Fähigkeit, selbst einen intensiven und nachhaltigen Kampf gegen die Taliban zu führen, wenn es erforderlich ist. Und das erfordert wiederum das Bereithalten von hinreichend starken Kampftruppen und Reserven.

Und hier wird ein altes Problem erneut deutlich. Nicht nur in Deutschland haben Politik und Öffentlichkeit Abzugsdaten, Rückzugsfahrpläne und Reduzierungen von Truppenstärken im Kopf. Die Planer im Einsatzführungskommando, Potsdam, und die verantwortlichen Militärs in Afghanistan hingegen müssen einerseits ihren Ausbildungs-, Unterstützungs- und möglicherweise auch Kampfauftrag erfüllen können, die eigene, gigantische Rückverlegungsoperation über möglicherweise überdehnte Verbindungswege organisieren und vor allem sichern, sie müssen in der Lage sein, die in unserem Verantwortungsbereich im Norden Afghanistans eingesetzten Truppen befreundeter Staaten zu unterstützen und sie müssen - dem Primat der Politik folgend - Truppenstärken so zurückfahren, wie es parlamentarisch beschlossen wird. Diese Problemstellung gleicht der Quadratur eines Kreises, denn die Bundeswehr braucht – wie andere Streitkräfte auch - für diese sehr schwierige Phase der Teilnahme am Afghanistankrieg zunächst mehr Kräfte für die Auftragserfüllung als heute. Und die verantwortlichen militärischen Führer brauchen hinreichend Reserven, um in der fragilen Sicherheitslage bei Lageverschlechterungen erfolgreich reagieren zu können.

Die Taliban wissen um diese Probleme, sie kennen die Zeitpläne, sie kennen sich im Zuge der Rückverlegungsrouten gut aus und sie haben Zeit. Diese Zeit können die nicht verhandlungsbereiten Taliban nutzen, um sich zu regenerieren, die Operationen gegen die Rückzugsoperationen der ISAF-Truppen zu planen sowie auch durchzuführen und um sich für die Zeit nach 2014 in eine politisch und militärisch günstige Ausgangsposition zu bringen. Wenn es nicht gelingt, die extremistischen Taliban zu ernsthaften Verhandlungen zu bringen, dann ist die Gefahr eines Aufloderns des Bürgerkrieges um 2014 herum groß.

Den Verteidigungsminister und die Soldaten treibt die Sorge um, dass die großen ideellen und materiellen Anstrengungen unserer Soldaten und zivilen deutschen Bürger, dass die Verluste, Gefallenen und Verwundeten umsonst waren, sie wollen nicht, dass der Einsatz scheitert. Das können auch unsere Parlamentarier nicht wollen, denn wenn der Bürgerkrieg nach 2014 wieder auflodert, wird das Engagement der westlichen Welt nach 2014 noch teurer als ohnehin. Deswegen sind trotz aller Afghanistanmüdigkeit der Bevölkerung an den sachlichen Erfordernissen orientierte Entscheidungen zu treffen.

Den deutschen Streitkräften muss für die Phase der Doppelbelastung in Afghanistan – bisherige Auftragserfüllung und gesicherte Rückverlegung – das erforderliche Kräftedispositiv, einschließlich einer großzügigen Reserve, parlamentarisch zugestanden werden. Nur so können die Soldaten der Bundeswehr ihren schwierigen Auftrag erfolgreich erfüllen. Die derzeitige Lage in Afghanistan weckt Hoffnungen. Insbesondere die Politik darf sich aber nicht in einer – trügerischen - Sicherheit wiegen und daraus möglicherweise die falschen Schlüsse ziehen. Hoffen wir auf die richtigen Entscheidungen für unsere Soldaten.

(13.07.2012)

 

 

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