Hans-Heinrich Dieter

Fortschritte in Afghanistan (13.07.2011)

 

Demnächst wird der Landtag von Mecklenburg-Vorpommern neu gewählt. Da muss Ministerpräsident Sellering natürlich zu allen möglichen Themen Stellung nehmen. Welt-Online sagte er im Zusammenhang mit dem für Ende 2011 ins Auge gefassten Abzug von 500 Soldaten aus Afghanistan: "Es ist ein Fehler, dass immer noch Bundeswehrsoldaten in Afghanistan stationiert sind. Es kann nicht sein, dass wir erst im Jahre 2014 abziehen oder diesen Abzug von bestimmten Fortschritten abhängig machen. Ich bin für den schnellstmöglichen Abzug der Bundeswehr. Und der sollte sofort beginnen." Es ist schon erstaunlich, wie wenig verantwortungsbewusst sich hochrangige Politiker der SPD äußern.

Unter der Leitung des Sonderbeauftragten für Afghanistan und Pakistan, Botschafter Michael Steiner, haben die am Afghanistan-Engagement beteiligten Ministerien im Dezember 2010 einen Fortschrittsbericht und jetzt im Juli einen Zwischenbericht  zur Lage in Afghanistan vorgelegt, um das Parlament und auch die Öffentlichkeit zu informieren.

Diesem Zwischenbericht zur Folge sind Afghanistan, Deutschland und die internationale Staatengemeinschaft mit vielen Schwierigkeiten und trotz schwerer Rückschläge in den  drei zentralen Aufgabengebieten, Sicherheit, Regierungsführung und Entwicklung, so vorangekommen, dass die Ãœbergabe der Sicherheitsverantwortung nun tatsächlich im Juli 2011 beginnen soll, mit dem Ziel, diesen Prozess bis Ende 2014 abgeschlossen zu haben.

Wenn wir davon ausgehen, dass der Bericht "eine ehrliche Bestandsaufnahme ist, die uns in unserem Kurs bestätigt", wie Außenminister Westerwelle sagt, und dass die Lage vor Ort es tatsächlich erlaubt, Ende dieses Jahres erstmalig das Bundeswehrkontingent zu reduzieren, dann bleiben trotzdem sehr viele Fragen offen, die ernsthaft diskutiert werden müssen. Dem verbreiteten deutschen Gefühl "Sofort raus aus Afghanistan" sollte verantwortungsbewusst  mit Sachargumenten begegnet werden. Denn die reale Lage zu Beginn der Transition im Juli 2011 und die absehbare Lageentwicklung erlauben es nicht, euphorische und falsche Erwartungen zu wecken.

Die Sicherheit der afghanischen Bevölkerung bleibt grundlegende Voraussetzung für Aufbau und Entwicklung. Trotz einiger Fortschritte verfügen Terrorgruppen und die aufständischen Taliban auch weiterhin über umfangreiche Fähigkeiten sowie vielfältige Ressourcen und sind in der Lage, durch öffentlichkeitswirksame und spektakuläre Terroranschläge mit unterschiedlicher Zielrichtung die Bevölkerung nachhaltig zu verunsichern und das Vertrauen in ISAF und in die afghanischen Institutionen zu erschüttern bzw. zu untergraben. Und diese unzureichende Sicherheitslage lässt derzeit landesweit zivile Entwicklungsarbeit in vielen Distrikten nicht zu. Aufgrund des fehlenden sicheren Umfeldes können Entwicklungsvorhaben in solchen Distrikten nur unter deutlich erschwerten Bedingungen oder überhaupt nicht durchgeführt werden.

In einer ersten Phase sollen nun sieben Gebiete, darunter Masar-e-Sharif in afghanische Verantwortung übergeben werden. Und bereits 2012 beginnend plant die Bundesregierung, unsere bisher militärisch geführten Regionalen Wiederaufbauteams (PRT) anzupassen und ausschließlich unter zivile Leitung zu stellen. Damit soll eine Schwerpunktverlagerung von militärischen auf zivile Aufgaben verdeutlicht werden. Dabei traut sich vor Herbst diese Jahres keiner eine Einschätzung zu, ob die bisherigen Anstrengungen zur Stabilisierung des Landes nachhaltig waren und zu einer Trendwende geführt haben. Dazu kommt, dass die USA 33.000 Soldaten abziehen werden. Die USA haben ihre eigenen regionalen Verantwortlichkeiten und müssen sparen. Im deutschen Verantwortungsbereich unterstützen die USA Deutschland mit kostspieligen Hochwert-Systemen und mit Spezial-Einheiten, die das Zurückgewinnen der durch Deutschland verlorenen Initiative in ihrem Verantwortungsbereich erst ermöglicht haben. Ein Teil dieser Truppen wird mit Sicherheit abgezogen werden, ohne dass sich die Verantwortung Deutschlands im Norden Afghanistans verringert. Außerdem werden Reserven für den Fall gebraucht, dass sich die Sicherheitslage in überantworteten Regionen verschlechtert. Eine gesunde Skepsis ist da angebracht und die Vorstellung, dass deutsche Truppen in größerem Umfang reduziert werden können, ist durch die Sicherheits-Lage vor Ort nicht begründet.

Ende 2014 soll Afghanistan zur vollen Ausübung seiner staatlichen Souveränität befähigt sein. Nach zehn Jahren Aufbauarbeit ist Afghanistan noch nicht sehr weit gekommen. Die gravierenden Defizite  im Hinblick auf Rechtsstaatlichkeit bestehen weiter und die "Herausforderungen" im Zusammenhang mit guter Regierungsführung und mit dem Aufbau einer funktionierenden afghanischen Verwaltung sind gewaltig. Eine wirksame Korruptionsbekämpfung wurde zwar zu einer afghanischen Kernverpflichtung erklärt, aber es fehlt offenbar an ernsthaftem Willen der afghanischen Behörden, wirkliche Fortschritte zu erzielen. Rückschläge sind deswegen an der Tagesordnung. Die Menschenrechtslage, vor allem auch die Lage der Frauen, hat sich nach anfänglichen Erfolgen in den letzten Jahren nicht verbessert, insbesondere weil die radikal-islamistischen Taliban die Bevölkerung ständig bedrohen und einschüchtern. Und in der Drogenbekämpfung gibt es in jüngster Zeit auch keine Fortschritte. Afghanistan ist weiterhin der weltweit führende Produzent und Exporteur von Opium, Heroin und Cannabis. Die afghanische Eigenverantwortung und Eigenleistung bleibt also weit hinter den Erwartungen und Anforderungen zurück. Nicht umsonst stellt sich die Staatengemeinschaft darauf ein, weit über 2014 hinaus mit erheblichem personellen und finanziellem Aufwand unterstützen zu müssen. Die Lage im Aufgabenfeld Regierungsführung gibt keinerlei Anlass zu Optimismus.

Im Aufgabenfeld Wiederaufbau und Entwicklung gibt es insbesondere im Bildungs- und Gesundheitssektor sehr ermutigende Erfolge. Das Problem wird aber in folgendem Satz gut zusammengefasst: "Die wirtschaftliche und soziale Transformation eines der ärmsten und  am wenigsten entwickelten Länder der Welt hin zu einem zumindest im regionalen Vergleich zufriedenstellenden Entwicklungsland ist eine Generationenaufgabe." Wenn wir uns ins Gedächtnis rufen, mit welchen blauäugigen und illusionsbeladenen Vorstellungen die damalige rot-grüne Bundesregierung das Afghanistan-Engagement vor zehn Jahren nach der Petersberg-Konferenz begonnen hat, dann kann man einschätzen, wie vielfältig und gravierend unsere Fehler waren und wie gering die Fortschritte tatsächlich sind.

Gleichwohl hat Deutschland für die afghanische Bevölkerung Verantwortung übernommen, der wir gerecht werden müssen. Das Ziel ist unverändert "Übergabe in Verantwortung". Und da ist es gut, dass Reduzierungen unseres Engagements immer von der konkreten Lage vor Ort abhängig gemacht werden. Wenn wir unsere kleinen Erfolge und die überschaubaren Fortschritte durch innen- und parteipolitisch orientierte Entscheidungen zu Truppenreduzierungen gefährden, dann schaden wir der afghanischen Bevölkerung, uns selbst und der Sicherheit des in Afghanistan engagierten deutschen Personals.

Und wenn der SPD-Vorsitzende Gabriel sagt, , jeder Ministerpräsident seiner Partei sei ein potenzieller Kanzlerkandidat, dann dokumentiert Sellering mit seinen oberflächlichen, populistischen und verantwortungslosen Aussagen, wie Unrecht sein Parteivorsitzender  hat.

(13.07.2011)

 

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