Hans-Heinrich Dieter

Die EU in der Krise   (02.04.2020)

 

Die EuropĂ€ische Union - und damit auch Europa – ist in einem bedauernswerten, ja geradezu mitleiderregenden Zustand. Die Finanzkrise ist nicht ĂŒberwunden, die Staatsverschuldung ist in den meisten Mitgliedstaaten nicht im Griff, die massiven Strukturprobleme der meisten EU-Staaten sind nicht oder nur unzureichend behoben und die FlĂŒchtlingsproblematik spaltet Europa mehrfach und nachhaltig. Die EuropĂ€ische Union hat massiv an Ansehen verloren und wird als Partner in der Weltpolitik wenig ernst genommen.

Die Ursachen fĂŒr den Ansehensverlust findet die EuropĂ€ische Union leicht bei sich selbst. Die EU ist eine strukturschwache Gemeinschaft von 27 mehr oder weniger egoistischen Nationalstaaten. Das Konsensprinzip fĂŒhrt dazu, dass Entscheidungen nur auf der Grundlage des kleinsten gemeinsamen Nenners getroffen werden. Solche Entscheidungen entwickeln naturgemĂ€ĂŸ nur eingeschrĂ€nkte politische Schlagkraft. Wenn die Staaten Europas sich in unserer globalisierten Welt auf der Grundlage unserer gemeinsamen Werte in Krisen stabilisierend einbringen wollen, dann geht das mit Aussicht auf Erfolg nur gemeinsam. Diese gemeinsame EU-Politik gibt es aber derzeit nicht, weil der Wille zu gemeinsamer Politik stark zu wĂŒnschen ĂŒbriglĂ€sst und die EU-Struktur effektive MachtausĂŒbung der Gemeinschaft verhindert. Und nun legt auch die Corona-Pandemie die SchwĂ€chen der EU schonungslos offen.

Am 26. MĂ€rz 1995 schafften die ersten europĂ€ischen Staaten die Kontrollen an ihren Binnengrenzen ab. Das 25 Jahre alte Schengen-Abkommen ist inzwischen ein Markenzeichen der EU, das die Bewegungsfreiheit ihrer BĂŒrger symbolisiert und auch ein GemeinschaftsgefĂŒhl innerhalb der EU erzeugt hat. Zum JubilĂ€um haben einige Mitgliedsstaaten wegen der Ausbreitung des Coronavirus ihre Grenzen weitestgehend, unkoordiniert und auf der Grundlage unzureichender Absprachen geschlossen. Der Erreger hat nur wenige Wochen benötigt, um die SolidaritĂ€t der Mitgliedstaaten um Jahrzehnte zurĂŒckzuwerfen. Die EU-Kommission hat diese gemeinschaftsschĂ€dliche Entwicklung nicht positiv beeinflussen können!

Und nun hat das ungarische Parlament am Montag dieser Woche vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie Notstandsgesetze gebilligt. Seitdem kann MinisterprĂ€sident Orban ohne zeitliche Befristung auf dem Verordnungsweg regieren. Das hat den luxemburgischen Außenminister Asselborn bewogen, die EU dazu aufzurufen, die VerhĂ€ngung der Notstandsgesetze in Ungarn nicht tatenlos hinzunehmen. Die EU dĂŒrfe sich mit einer diktatorischen Regierung in ihren Reihen nicht abfinden, sagte Asselborn der Zeitung „Die Welt“. Die ungarische Regierung dĂŒrfe keinen Platz mehr am Tisch der europĂ€ischen Institutionen haben und auch keine Entscheidungen mehr mitfĂ€llen, die am Ende alle Menschen in der EU betrĂ€fen. Asselborn fordert, Ungarn in die „politische QuarantĂ€ne“ zu schicken. Asselborn hat Recht, „die EU darf sich mit diktatorischer Regierung nicht abfinden.“ Und die polnische Zeitung RZECZPOSPOLITA schreibt zur gleichen Thematik: „Innerhalb nur eines Monats hat sich Europa bis zur Unkenntlichkeit verĂ€ndert: LĂ€nder stellen Grenzen wieder her, Regierungen legen per Dekret neue Regeln und BeschrĂ€nkungen fest. Der Kampf gegen die Epidemie und ihre Folgen Ă€hnelt immer mehr einer Kriegssituation. Europa lebt plötzlich in der RealitĂ€t eines Ausnahmezustands, in dem sich Politik und Gesellschaften um ihre jeweils eigenen Staaten und Regierungen versammeln. …“ Ungarn entspricht nicht mehr den Wertvorstellungen der EU und kann nicht mehr als Demokratie bezeichnet werden!

Und nun hat der EuropĂ€ische Gerichtshof entschieden, dass Polen, Tschechien und Ungarn im Zusammenhang mit der Verweigerung der Übernahme von Asylbewerbern EU-Recht gebrochen haben. Nach EinschĂ€tzung der polnischen Regierung wird dieses EuGH-Urteil „praktisch bedeutungslos“ sein. Was fĂŒr eine arrogante und dreiste GeringschĂ€tzung europĂ€ischer Gerichtsbarkeit! Das darf die EU nicht zulassen, hier sind scharfe Sanktionen erforderlich, die sich in unsolidarischen Mitgliedsstaaten drastisch auswirken.

Die Entwicklung der letzten Monate ist sehr ernst zu nehmen und die EU muss auch im Falle Ungarns handeln, wenn sie glaubwĂŒrdig bleiben will. Das ist allerdings leichter gefordert als getan, denn die EU ist auch in solchen FĂ€llen relativ machtlos. FĂŒr ein Rechtstaatsverfahren wird Einstimmigkeit benötigt, und Ungarn und Polen schĂŒtzen sich gegenseitig mit ihrem Veto. Die EU darf sich aber nicht mit einer „HandlungsunfĂ€higkeit“ abfinden. Es scheint deswegen an der Zeit zu sein, Ungarn in erheblichem Umfang Mittel zu streichen und darĂŒber hinaus weitere Sanktionen zu verhĂ€ngen. Ungarn sollte vor die Wahl gestellt werden und selbst entscheiden, ob es sich verhalten will wie es sich fĂŒr ein Mitgliedsland der Wertegemeinschaft EU gehört oder ob es die Union verlassen will.

Der Brexit hat die EU zu gemeinsamem Handeln gebracht. Und die Corona-Krise sollte genutzt werden, um Defizite und Schwachstellen zu analysieren und Konsequenzen daraus zu ziehen. Dazu muss sich die EU strukturell reformieren und weiterentwickeln von einer friedensstiftenden Nachkriegs-Wirtschaftsunion zu einem international handlungsfĂ€higen außen- und sicherheitspolitischen Akteur mit leistungsfĂ€higen politischen Instrumenten, die sie auf der Grundlage einer Gesamtstrategie machtvoll zur Wirkung bringen kann. Das wird nur durch die allmĂ€hliche, schrittweise Gestaltung einer glaubhaften und wirkungsvollen globalen außenpolitischen Rolle gelingen. Und ein international handlungsfĂ€higer außen- und sicherheitspolitischer Akteur kann die EU nur werden mit einem Neuanfang werteorientierter und solidarischer Mitgliedstaaten, die bereit sind, auch nationale Kompetenzen an die EU zu ĂŒbertragen. Wer da nicht mitziehen will, muss sich mit einer privilegierten Mitgliedschaft und deutlich weniger EU-Mitteln zufriedengeben! Denn wer die grundlegenden Werte der EuropĂ€ischen Union, insbesondere in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit, nicht teilt, sollte das Recht auf Mitgliedschaft verlieren.

Und es muss eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik definiert und zur Grundlage gemeinsamer Politik werden. Außerdem sollte das EU-Parlament das Initiativrecht fĂŒr Gesetzesvorhaben erhalten und in der Außen- und Sicherheitspolitik wie auch in der Klimaschutz- und FlĂŒchtlingspolitik sollten Blockaden einzelner Mitgliedstaaten durch Mehrheitsentscheidungen anstelle von Einstimmigkeit vermieden werden.

Die Wertegemeinschaft EU ist fĂŒr die Rolle Europas in der globalisierten Welt und fĂŒr das Wohl der BĂŒrger ihrer solidarischen Mitgliedsstaaten zu wichtig, um durch zunehmend nationalistisch und egozentrisch orientierte Mitglieder zerstört zu werden!

(02.04.2020)

 

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