Hans-Heinrich Dieter

Bedauernswertes Europa   (26.10.2015)

 

Die Europäische Union, und damit auch Europa, ist in einem bedauernswerten, ja geradezu mitleiderregenden Zustand. Die Finanzkrise ist nicht überwunden, die Staatsverschuldung ist in den meisten Mitgliedstaaten nicht im Griff, die massiven Strukturprobleme der meisten EU-Staaten sind nicht oder nur unzureichend behoben und die Flüchtlingsproblematik droht Europa zu spalten. Die Europäische Union hat massiv an Ansehen verloren und wird als Partner in der Weltpolitik wenig ernst genommen.

Die Ursachen für den Ansehensverlust findet die Europäische Union leicht bei sich selbst. Die EU ist eine strukturschwache Gemeinschaft von 28 mehr oder weniger egoistischen Nationalstaaten. Das Konsensprinzip führt dazu, dass Entscheidungen nur auf der Grundlage des kleinsten gemeinsamen Nenners getroffen werden. Solche Entscheidungen entwickeln naturgemäß nur eingeschränkte politische Schlagkraft. Wenn die Staaten Europas sich in unserer globalisierten Welt auf der Grundlage unserer gemeinsamen Werte in Krisen stabilisierend einbringen wollen, dann geht das mit Aussicht auf Erfolg nur gemeinsam. Diese gemeinsame EU-Politik gibt es aber genauso wenig wie eine gemeinsame EU-Außen- und Sicherheitspolitik, weil der Wille zu gemeinsamer Politik stark zu wünschen übrig lässt und die EU-Struktur effektive Machtausübung der Gemeinschaft verhindert.

Darüber hinaus fehlten und fehlen derzeit durchsetzungsfähige EU-Persönlichkeiten, die eine gemeinsame Politik gestalten und abstimmen könnten. Deswegen lässt die EU es zu, dass einzelne EU-Mitglieder ohne erkennbare Koordination durch die Europäische Union, aber vorgeblich im Interesse der EU, als Nationalstaaten oder als Nationalstaaten-Team „auf eigene Faust“ und in eigenem Interesse versuchen, Konflikte zu entschärfen. Dazu kommt, dass die EU sich zwar als Wertegemeinschaft versteht, aber nicht alle EU-Mitgliedstaaten sich diesen Werten verpflichtet fühlen. Griechenland ist höchst korrupt, nur eingeschränkt reformwillig und -fähig, fordert Solidarität der EU und verhält sich den EU-Mitgliedern gegenüber in hohem Maße unsolidarisch. Ungarn entwickelt sich weg von der Demokratie. Rumänien und Bulgarien erfüllen bis heute noch nicht die Mitgliedskriterien. Italien zeigt sich bisher nur eingeschränkt reformfähig. Frankreich versteht sich immer noch als Grande Nation und ist mit seiner sozialistischen Mehrheit reformunwillig. Luxembourg hat sich auf der Grundlage von Steuerflucht- und Steuervermeidungsmodellen zu Lasten anderer Mitglieder über Jahre bereichert und Großbritannien stellt sich mit egoistischer Politik schon jetzt teilweise an den Rand der Union. In dieser Gemengelage von unterschiedlich leistungsfähigen und eingestellten Mitgliedstaaten werden die Länder Europas nur höchst widerwillig unter Einschränkung ihrer nationalstaatlichen Interessen einer fairen Lastenteilung bei der Bewältigung gemeinsamer Probleme zustimmen.

Wer wird schon von einer derart schlecht verfassten Europäischen Union in der aktuellen Flüchtlingskrise schnelle, hilfreiche, gemeinsame und solidarische Maßnahmen zur Bewältigung der Migrantenflut erwarten? Gegen das Schengen-Abkommen haben Mitgliedsländer mehrfach verstoßen, das Dublin 2-Ãœbereinkommen ist faktisch außer Kraft gesetzt. Großbritannien und Dänemark haben Sonderrechte. Deutschland betreibt „Einladungspolitik“ und pflegt eine naive sowie von Realitätsverlust gekennzeichnete „Willkommenskultur“. Ungarn hat sich gegen Flüchtlinge abgeschottet und sieht sich lediglich noch als Beobachter der Krise. Kroatien und Slowenien sind hoffnungslos überfordert. Österreich winkt die Flüchtlinge mit Charme und Schmäh nach Deutschland durch. Griechenland hat zwar einen übergroßen Beamtenapparat, kann aber den Flüchtlingsansturm aus der Türkei, die die Flüchtlinge aus Syrien nur sehr unzureichend versorgt und dadurch starke Fluchtgründe schafft, nicht bewältigen. Rumänien und Bulgarien treiben selbst Minderheiten wie Sinti und Roma in die Flucht zu den nördlichen EU-Ländern. Die EU ist daher meilenweit entfernt von geordneten Verhältnissen und Verfahren im Zuge der West-Balkan-Route. Natürlich palavern da alle von Solidarität und gemeinsamem Handeln!

Unter diesen chaotischen Umständen fand ein Sondertreffen von zehn EU-Mitgliedstaaten und drei Balkanstaaten statt, zu dem Kommissionspräsident Juncker eingeladen hatte. Wenn es sich um eine europäische Krise handelt und nach gemeinsamen Lösungen bis hin zur fairen Verteilung von Flüchtlingen auf alle Mitgliedstaaten gesucht wird, warum lädt dann nicht der dafür zuständige EU-Ratspräsident Tusk alle Staats- und Regierungschefs der EU ein? Warum müssen immer wieder Sonderaktionen einzelner Mitglieder oder von kleinen Mitgliedsgruppen veranstaltet werden, die immer wieder den Eindruck von ungleicher Mitgliedschaft erwecken. Und wenn Juncker dann für einen engen Schulterschluss mit der Türkei wirbt, den EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wieder „neuen Schwung“ verleihen will und als Wahlkampfhilfe für Erdogan den für Mitte Oktober vorgesehenen - ziemlich negativen - Fortschrittsbericht zur Türkei bis nach der Wahl zurückhalten will, dann sind das Themen und Verantwortlichkeiten, die alle EU-Mitgliedstaaten zu interessieren haben.

Dementsprechend ist auf dem Mini-Sondergipfel auch nahezu nichts erreicht worden. Der 16-Punkte-Plan von Juncker hat sich als ziemlich untauglich erwiesen. Slowenien soll allerdings mit 400 zusätzlichen FRONTEX-Beamten unterstützt werden. Ein besserer Informationsaustausch der Balkan-Transitländer wurde abgesprochen. Das mag ein wenig helfen. Das Einrichten von Transitzonen mit Schwerpunkt im organisatorisch offensichtlich unfähigen Griechenland wird dauern. Absprachen mit afrikanischen Machthabern und mit Afghanistan sowie Pakistan zur Rücknahme von abgelehnten Asylsuchenden werden lange Zeit brauchen, wo doch jeder Tag zählt. Ob die Türkei tatsächlich die Grenzen zu Griechenland dicht machen und sich aus freien Stücken für Europa zum „Staatsgefängnis“ für Flüchtlinge machen will und kann, ist völlig offen. Fakt ist, dass die Europäische Union sich langfristig unfähig zeigt, selbst ihre Außengrenzen zu sichern.

Deswegen werden einige EU-Mitgliedstaaten durch den Flüchtlingsansturm weiter destabilisiert. Und wenn Deutschland seine „Einladungspolitik“ nicht umgehend ändert, kann es auch nicht erwarten, dass andere EU-Mitgliedstaaten bereit sind, die Folgen dieser Politik solidarisch mitzutragen.

Der slowenische Regierungschef Miro Cerar warnt: „Europa steht auf dem Spiel, wenn wir nicht alles tun, was in unserer Macht steht, um gemeinsam eine Lösung zu finden.“ Und er sieht den „ Anfang vom Ende der EU und von Europa als solches“. Angesichts der schwachen und wenig leistungsstarken Europäischen Union ist seine Skepsis sehr berechtigt!

(26.10.2015)

 

 

nach oben

 

zurück zur Seite Klare Worte