Hans-Heinrich Dieter

Alleine in Europa (13.05.2011)

 

Der Verzicht auf politische Sonderwege ist eines der Grundprinzipien deutscher Außenpolitik. Das vereinte Deutschland hat aufgrund seiner Größe und seines wirtschaftlichen Potenzials ein besonderes Gewicht in Europa. Daraus erwachsen Gestaltungsmöglichkeiten aber auch eine besondere Verantwortung. Deutschland hat sich in die Europäische Union intensiv eingebunden und ist nicht nur der größte Netto-Zahler, sondern profitiert als Exportnation auch ganz erheblich von der Gemeinschaft. Politische Alleingänge verbieten sich da, schon aus politischer Klugheit.

Politische Klugheit ist allerdings kein Gestaltungsmerkmal derzeitiger deutscher Politik. Die deutsche Politik ist heute eher egozentrisch, vorwiegend partei- und innenpolitisch orientiert sowie durch kurzfristige, hektische und populistische Politik zur Befriedigung teilweise diffuser Angstgefühle der deutschen Stimmungs- und Dagegenbürger gekennzeichnet. Das trifft insbesondere auf die Energiepolitik zu. Da bleibt wenig Raum für langfristiges europäisches Denken. Und das in einer Zeit, wo die Europäische Union erkennbar überfordert ist im Hinblick auf europäische Außenpolitik, wo ein permanenter Streit über den Euro und die Flüchtlingsprobleme die Gemeinschaft stark belastet und wo Frankreich, Italien und Dänemark aus dem Europa der Reisefreiheit und der offenen Grenzen "ausbrechen".

Europa in einer solchen Krise braucht keine Alleingänge, die die Europa-Skepsis verstärken, sondern die erkennbare Bereitschaft, die europäische Idee mit Leben zu erfüllen und zu stärken. Da ist Deutschland besonders gefordert, es wird den Forderungen aber erkennbar nicht gerecht. Das lässt sich am deutlichsten an der Energiepolitik erkennen.

Für die deutsche Bevölkerung und Politik war die Katastrophe von Fukushima am 11.März 2011 vor allem ein innenpolitisches Beben. Joachim Güntner schreibt in der NEUEN ZÃœRCHER ZEITUNG: "Dass die Deutschen einen Hang zu irrlichternder Panik haben, gilt seit langem als ausgemacht. […] Verstrahlt in Fukushima ein Atomkraftwerk die Umgebung, setzt im neuntausend Kilometer entfernten Deutschland ein Run auf Geigerzähler ein […]. Egomanisch wirkt, dass die mediale Fixierung auf die AKW-Havarie das Mitleid für die Opfer des Tsunami überlagert, wenn nicht gar verdrängt." Und in der Tageszeitung DIE WELT stellt der Japanologe Reinhard Zöllner fest: "Es stimmt: In vielen Ländern reagierten die Medien und die Menschen verstört, schockiert, ungläubig auf die Ereignisse in Japan. Aber Hysterie, Unprofessionalität und vor allem Gefühl- und Taktlosigkeit bis zum Zynismus: das war das ganz besondere Markenzeichen der deutschen Reaktion. Und zwar nicht nur der Medien. Die deutsche Haltung zu Erdbeben, Tsunami und Atomkatastrophe war eine Aneinanderreihung von peinlichen Desastern". Da kann man schon erschüttert sein von der gefühlsmäßigen Erschütterung.

Hektik, Hysterie und 180-Grad-Kursänderungen in der Energiepolitik sind ganz offensichtlich ein deutsches Alleinstellungsmerkmal, das bei unseren Nachbarn Unverständnis, Spott, gelegentlich Mitleid oder auch klammheimliche Freude, wegen der absehbaren ökonomischen und politischen Selbstbeschädigung hervorruft.

Allerdings hat sich Deutschland in der Europäischen Union gegen erheblichen Widerstand stark engagiert, um die 146 in der EU betriebenen Reaktoren auf alle durch die Fukushima-Katastrophe offenbar gewordenen zusätzlichen Unfallszenarien überprüfen zu lassen. Außerdem sollte getestet werden, ob Stromversorgung, Kühlung und zusätzliche Aggregate nach Terrorangriffen, menschlichen Bedienfehlern oder in unverhofften Notsituationen sicher funktionieren. Solchen "Stresstests" hatten die 27 europäischen Staats- und Regierungschefs auf einem Gipfeltreffen im März grundsätzlich zugestimmt. Die Teilnahme sollte aber letztlich den EU-Staaten überlassen bleiben.

Dieser lobenswerte Versuch, Sicherheit bei der Nutzung der Kernenergie auf europäischer Ebene zu standardisieren und zu erhöhen, wird aber zur Zeit stark verwässert. Insbesondere Frankreich und Großbritannien, die die meisten Atomkraftwerke in Europa betreiben, haben sich, Informationen aus der EU-Kommission entsprechend, für deutlich abgeschwächte Tests stark gemacht.

Die westeuropäischen Atomaufseher lehnen denn auch die weitgehenden Tests strikt ab: "Wenn die Erfahrungen des Unfalls in Fukushima auch die Notfallmaßnahmen für den Schutz der Öffentlichkeit betreffen (Feuerwehr, Polizei und Gesundheitsversorgung), ist dies nicht Teil dieser Stresstests", heißt es in deren Vorschlag. Die europäischen AKW-Betreiber sollen demnach lediglich einen Bericht zu möglichen Gefahren verfassen und an die Kommission senden. Unabhängige EU-Fachleute sollen keinen Zutritt zu den Kraftwerken bekommen. Es wird also keine unabhängig überprüfte Reaktorsicherheit nach gleichen Kriterien in Europa geben. Die Risiken der AKW unserer Nachbarn sind unsere Risiken, ohne positiven Einfluss nehmen zu können.

Die Bemühungen Minister Röttgens um weitgehende und gleiche Sicherheitsprüfungen auf europäischer Ebene waren nicht erfolgreich und auch dem deutschen EU-Energiekommissar Oettinger ist es bisher nicht gelungen, harmonisierte Bestimmungen für die Stresstests der 27 Mitgliedsstaaten durchzusetzen. Die Mitgliedstaaten wollen keine Kompetenzen und Zuständigkeiten an die EU abgeben. Frankreich und Großbritannien wollen auf keines ihrer AKW verzichten. Tschechien muss sein veraltetes Kernkraftwerk Temelin an der Grenze zu Deutschland uneingeschränkt weiter nutzen. Polen und Bulgarien wollen dringend neue AKW. Da stören weitgehende harmonisierte Sicherheitsüberprüfungen. Und an diesem deutschen Anti-Atom-Wesen will offenbar keiner in Europa so richtig genesen. Im Gegenteil, Italien plant den Bau von 5, Rumänien von 4 neuen AKW.

Dieses Beispiel europäischer energiepolitischer Realität zeigt sehr deutlich. dass wir mit unserer auf den schnellstmöglichen Ausstieg aus der Atomenergie fixierten Energiepolitik alleine sind in Europa. Andere europäische Bevölkerungen haben erkennbar weniger Angst bzw. ein weniger stark ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis und wollen Energie durch einen überhasteten Ausstieg aus der Kernenergie nicht zu einem “Luxusgut” werden lassen, das Wohlstand, Wachstum und Wirtschaft beeinträchtigt.

Und dieses Beispiel öffnet auch die Augen für politischen Unsinn. Sicherheit macht nun einmal vor Grenzen nicht Halt. Es ist doch einfach absurd, wenn rund um Deutschland alte oder weniger sichere Kernkraftwerke wie das französische Fessenheim oder das tschechische Temelin weiterlaufen, während modernere Meiler hierzulande abgeschaltet werden. Die zukünftige Nutzung der Kernenergie ist eben keine Frage, die national beantwortet werden kann. Eine AKW-Havarie in Frankreich beträfe uns ziemlich direkt und ein GAU auf den Inseln Großbritanniens kann uns bei vorwiegendem Westwind auch nicht ruhig schlafen lassen. Völlig absurd wird es dann, wenn wir später in Deutschland aus Gründen der Versorgungssicherheit ggf. gezwungen sein sollten, z.B. französischen Atomstrom aus Cattenom zuzukaufen.

Die politischen, ökonomischen und ökologischen Auswirkungen eines sehr schnellen deutschen Ausstieges aus der Atomenergie werden zur Zeit von Kommissionen geprüft. Den Ergebnissen sollte man nicht vorgreifen. Aber eines ist jetzt schon sicher, alles bleibt unzureichendes Stückwerk, solange die europäischen Partner ihre Kernkraftwerke nicht überprüfbar und parallel einer stringenten gleichen Prüfung unterziehen und die Prüfergebnisse nicht Grundlage für Konsequenzen mit dem Ziel gleicher europäischer Sicherheit werden.

Die Verantwortung Deutschlands als bedeutendste Wirtschaftsmacht Europas bedingt auch, dass Deutschland sein Wirtschaftspotenzial erhält und für gleiche ökonomische und ökologische Bedingungen im Wirtschaftsraum Europa sorgt. Die deutsche Bevölkerung darf durch energiepolitische deutsche Alleingänge ohne Zugewinn an Sicherheit und bei gleichbleibenden Risiken in Europa nicht beeinträchtigt und benachteiligt werden.

Und das Problem bleibt nicht auf Europa beschränkt. Die zukünftige Nutzung der Kernenergie ist eine Frage, die international, ja global beantwortet werden muss. Weder Deutschland noch Frankreich oder Großbritannien, haben das Gewicht, energiepolitische Interessen in der Welt alleine vertreten zu können. In der globalen Weltordnung kann nur die EU eine einflussreiche Rolle spielen. Deswegen ist es höchste Zeit, die Idee vom vereinten Europa zu beleben und mit Kraft voran zu bringen. Auch und gerade in der Energiepolitik.

Alleine hat Deutschland in Europa und in der Welt erhebliche Nachteile.

(13.05.2011)

 

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