Hans-Heinrich Dieter

 

Zukunft der Europäischen Union   (22.12.2012)

 

Die Europäische Union hat 2012 den Friedensnobelpreis erhalten. Wenn man sich die blutige Geschichte Europas vor 1945, die grandiosen Einigungsbemühungen nach dem Zweiten Weltkrieg und erfolgreichen Bemühungen um die Erhaltung des Friedens in Europa vor Augen führt, dann darf man sich auch als deutscher Bürger mit Recht über diese Anerkennung freuen.

Derzeit durchlebt die Europäische Union allerdings eine Schulden- und Finanzkrise, die Ehrung und Anerkennung in den Augen nicht weniger europäischer Bürger fragwürdig erscheinen lässt. Einige Mitglieder der Europäischen Union haben weit über ihre Verhältnisse gelebt, durch die Globalisierung erforderlich gewordene wirtschaftliche und gesellschaftliche Strukturreformen versäumt, unverantwortlich hohe Schuldenberge angehäuft und auf Kosten ihrer zukünftigen Generationen Politik gemacht. Das gefährdet den sozialen Frieden in den Mitgliedstaaten und treibt Keile zwischen die Mitglieder. Schuld an dieser Krise sind aber auch eine Reihe von Geburtsfehlern der Europäischen Union, der die Grundlagen für eine wirklich gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik und insgesamt für gemeinsames politisches Handeln fehlen. Es wird nun intensiv daran gearbeitet, diese Geburtsfehler zu beheben und die EU zunächst zu einer Wirtschafts- und Währungsunion auszubauen.

Eine funktionierende Wirtschafts- und Währungsunion wird allerdings nicht reichen, um die Zukunft und einen angemessenen Einfluss der Europäischen Union im Machtgefüge der sich verändernden Welt zu sichern. Die Europäische Union muss sich weiterentwickeln zu Vereinigten Staaten von Europa, wenn sie nicht an die Peripherie der Entwicklung gedrängt werden will. Dazu bedarf es einer vielfältigen und weitreichenden gesellschaftlichen und politischen Integration Europas unter Verzicht auf nationale Rechte in mehreren Politikfeldern.

Davon ist die Europäische Union sehr weit entfernt. Darüber hinaus ist die Entwicklung in einigen europäischen Staaten gegenläufig. Belgien leidet unter schwer vorstellbaren politischen Schwierigkeiten, die der Streit zwischen Flamen und Wallonen mit sich bringt. Wenn es nach vielen Flamen ginge, hätten sie einen eigenen Staat, frei von der „wallonischen Last“. In Großbritannien gibt es eine starke nationalistische und auch ernstzunehmende Bewegung, die eine Herauslösung des United Kingdom aus der Europäischen Union anstrebt. Im kommenden Jahr wird es ein Referendum in Schottland geben, das über Verbleib im United Kingdom oder ein unabhängiges Schottland entscheidet. In Nordirland brechen die Feindseligkeiten zwischen Protestanten und Katholiken erneut in einer Heftigkeit aus, die durchaus Angst um diesen Teil Großbritanniens hervorrufen kann.
 Frankreich ist Teil des Motors der Europäischen Union, aber die Grande Nation ist stärker auf nationale Interessen fixiert als Deutschland und als das für Europa gut ist. Rumänien und Bulgarien sind von Korruption zerfressen, wirtschaftlich schwach, in vielfacher Hinsicht nicht reif für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union und trotzdem leider Mitglieder, die die Union eher belasten als für Integration förderlich zu wirken. In Spanien gibt es starke Bestrebungen, Katalonien abzuspalten und zu einem eigenständigen Staat zu machen. Von Zypern ist nur der südliche Landesteil EU-Mitglied. Serbien strebt die Mitgliedschaft in der EU an, ist aber nicht bereit, das Kosovo anzuerkennen. Die größte Volkswirtschaft in Europa, Deutschland, ist politisch nicht selbstbewusst und stark genug, um die Integration Europas kraftvoll voranzubringen. Und wenn man die teilweise hasserfüllten „Ressentiments“ in den südlichen Mitgliedstaaten gegenüber deutscher Europa-Politik zur Ãœberwindung der derzeitigen Krise miterlebt, kann man sich Vereinigte Staaten von Europa beim besten Willen nicht vorstellen. Und in der aktuellen Politik dokumentiert Europa außerdem immer wieder Uneinigkeit und tiefsitzende Streitigkeiten, sei es beim Libyen-Konflikt, beim Nahost-Konflikt oder auch zuletzt beim Klima-Gipfel in Doha. Von gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik ist die EU sehr weit entfernt und verantwortliche Politiker der EU, wie Frau Ashton, sind ja teilweise aufgrund ihrer politischen Schwäche in die Ämter gehievt worden und tragen deswegen genauso wenig zur Vertiefung der Integration in diesen Politikfeldern bei wie der schwache NATO-Generalsekretär Rasmussen. Wenn man die Zukunft Europas sichern will, führt kein Weg an vertiefter Integration mit dem Ziel eines vereinten Europas vorbei. Eine mögliche Erweiterung der Europäischen Union um fragwürdige Mitglieder erschwert solche Bemühungen.

Der baden-württembergische Ministerpräsident Kretschmann hat neulich bei einem Besuch in der Türkei – freilich ohne außenpolitisches Mandat - dafür plädiert, die Verhandlungen zwischen der EU und der Türkei „ernsthaft“ mit dem Ziel einer EU-Vollmitgliedschaft wieder aufzunehmen. Ministerpräsident Erdogan hat bei seinem Deutschlandbesuch im Oktober erneut die möglichst baldige türkische Vollmitgliedschaft in der EU gefordert und meinte, sein wirtschaftlich starkes Land werde keine Belastung für die EU sein - "wir kommen, um Last zu übernehmen". Außenminister Westerwelle will nun den seit Jahren stockenden Verhandlungen mit der Türkei über einen Beitritt des Landes zur Europäischen Union neuen Schwung verleihen. Weil er befürchtet, das Interesse der Regionalmacht Türkei an einer Mitgliedschaft in der EU könnte erlahmen, will er 2013 weitere Kapitel verhandeln. Westerwelle räumt allerdings ein, dass vor den Gesprächspartnern noch eine beträchtliche Wegstrecke liegt. Wann welche Ziele erreicht werden können, weiß keiner so genau, „aber wir schulden der Türkei faire und respektvolle Verhandlungen“ meint er. Als ob es an Fairness und Respekt gegenüber der Türkei seitens Deutschland gefehlt hätte. Wenn sich Politiker diplomatisch daneben benehmen, dann doch wohl eher der Chauvinist Erdogan – wie mehrfach bei Deutschlandbesuchen unter Beweis gestellt.

Bevor Deutschland in dieser Angelegenheit Druck macht, sollte der Außenminister erneut den am 10. Oktober veröffentlichten Fortschrittsbericht der EU-Kommission bezüglich der Beitrittsfähigkeit der Türkei zur Kenntnis nehmen, der immerhin inzwischen wieder deutlich gewachsene Defizite bei den Themen Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit offenlegt. Ganz offensichtlich hat die Türkei bei den Anstrengungen um das Erfüllen von EU-Beitrittsnormen deutlich nachgelassen. Bevor Westerwelle also über „weitere Kapitel“ mit der Türkei verhandeln will, sollte er auch zur Kenntnis nehmen, dass die Verhandlungen mit der EU nach definierten Kapiteln zu verschiedenen Politikbereichen gegliedert sind, die nacheinander abzuhandeln sind. Die Beitrittsfähigkeit der Türkei zur EU muss also durch die Türkei ein Kapitel nach dem anderen gewährleistet werden. Westerwelle sollte sich in dieser Angelegenheit auch mit Frankreich eng abstimmen. Und bevor er in der Türkei unzulässige Hoffnungen weckt, sollte er deutlich machen, dass wir in Europa demokratische, freiheitliche und christliche Wertvorstellungen haben, denen ein EU-Mitglied auch entsprechen muss. Da hat die Türkei noch erheblich zu arbeiten und diese Arbeiten kann man der Türkei weder abnehmen noch erlassen.

Beim Deutschlandbesuch Erdogans im Oktober 2012 haben sich vor dem Brandenburger Tor einige tausend Menschen an einer Protestkundgebung der Alevitischen Gemeinde Deutschlands (AABF) gegen die Politik von Erdogan beteiligt. Sie warfen Erdogan vor, in Deutschland "Isolationsgesellschaften" zu schaffen, er sei "Architekt einer Parallelgesellschaft unter türkischen Jugendlichen in Deutschland". Weitere Kritikpunkte waren, dass er die Menschenrechte verachte und ein Feind von Kurden und Andersgläubigen sei. Diese Menschen sollte man durchaus ernst nehmen. Und auch die Behandlung der christlichen Minderheit in der Türkei muss ständiges Thema bei Verhandlungen sein. Es führt kein Weg daran vorbei, wenn die Türkei möglichst bald Mitglied in der EU werden will, muss sich die Türkei möglichst bald zu einem beitrittswürdigen Staat entwickeln. Bisher tut sich die Türkei eher durch Verweigerungshaltungen zum Beispiel in der Zypernfrage hervor. Und die nationalistische, großtürkische Politik, die Erdogan seit einigen Jahren verfolgt, trägt auch nicht zur Vertrauenswürdigkeit der Türkei als mögliches zukünftiges Mitglied in einer tiefer integrierten EU bei.

Die Europäische Union hat derzeit noch erhebliche Probleme mit der Finanz- und Schuldenkrise. Die EU muss sich reformieren und tragfähige Grundlagen für eine Wirtschafts- und Fiskalunion schaffen. Die EU muss sich weiterentwickeln, Renationalisierungstendenzen einiger Mitgliedstaaten entgegenwirken und zu einer tieferen Integration der Mitglieder finden. In einer solch schwierigen politischen Phase kann sich die EU nur um Mitglieder erweitern, die die Kriterien in vollem Umfang erfüllen und die bereit sind, sich vorbehaltlos in die Europäische Union zu integrieren. Mit den jetzt offengelegten Defiziten bei den Themen Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit verbietet sich eine baldige EU-Mitgliedschaft der Türkei. Deswegen sollte es auch keinen Druck in Richtung einer baldigen Mitgliedschaft der Türkei geben.

Ich bin eher für vollkommen ergebnisoffene Verhandlungen auf der Basis der bisherigen Verhandlungsgrundlagen und -ergebnisse. Teil fairer und respektvoller Verhandlungen ist dabei, dass man der Türkei ehrlich sagt, dass der Prozess noch mindestens zehn Jahre dauern wird und dass ein positives Ergebnis allein davon abhängt, wie positiv sich die Türkei entwickelt und erneuert. Wenn die Türkei die Kriterien voll erfüllt, bin ich für eine Vollmitgliedschaft in der EU, auch wenn die Türkei nur zu einem verschwindend geringen Teil zu Europa und auch nur bedingt zum europäischen Kulturkreis gehört. Erfüllt die Türkei die Kriterien allerdings nur in unzureichendem Maße, kann sie auch nur privilegierter Partner der EU werden.

(22.12.2012)

 

 

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