Hans-Heinrich Dieter

Teurer Aktionismus   (19.10.2015)

 

Bundeskanzlerin Merkel ist im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise zwei Wochen vor den Wahlen in der Türkei zu Gesprächen mit Präsident Erdogan und Ministerpräsident Davutoglu nach Istanbul gereist. Man fragt sich: Mit welchem Ziel reist die Kanzlerin, hat sie ein Mandat der EU, gibt es einen Kabinettsbeschluss oder eine diesbezügliche Entscheidung des Bundestages? Solche Fragen scheinen weder die Kanzlerin, noch die Parlamentarier, noch die Medien und auch nicht die Europäische Union zu interessieren.

Die Spitzen der EU haben in der letzten Woche Gespräche zur Flüchtlingskrise mit Erdogan geführt. Danach gab es einen EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs, die die Vorschläge unterstützten. Am Freitag verkündete dann die EU Rahmenvereinbarungen mit der Türkei zur Bewältigung der Flüchtlingskrise. Detailregelungen sollen noch erarbeitet werden.

Der derzeitige Aktionsplan sieht im Wesentlichen vor:

-Flüchtlinge in der Türkei, im Libanon, Irak und in Jordanien sollen von der EU humanitäre Hilfe bekommen.

-Die Türkei soll Flüchtlinge registrieren und sie mit Reisedokumenten ausstatten.

- Die EU überweist bis zu 500 Millionen Euro nach Ankara. Sie sollen jeweils zur Hälfte aus dem EU-Budget und von den Mitgliedstaaten kommen.

- Die EU will die Türkei außerdem im Kampf gegen Schleuser unterstützen.

- Die Türkei soll abgelehnte Asylbewerberschneller wieder aufnehmen.

Im Gegenzug soll es möglicherweise Visa-Erleichterungen für türkische Bürger bei der Einreise in die EU geben. Außerdem wurde deutlich, dass man die Beitrittsverhandlungen für die Türkei wieder aufnehmen wolle. Es gibt einen Sachstand der Bemühungen der EU mit der Türkei um die Bewältigung der Flüchtlingskrise. Details sind noch auszuarbeiten, zum Beispiel die Diskrepanz zwischen der Forderung Erdogans nach 3 Milliarden Euro und den von der EU ins Auge gefassten 500 Millionen.

Was also will die Kanzlerin des EU-Mitgliedstaates Deutschland, das den EU-Türkei-Rahmenvereinbarungen zugestimmt hat, im offensichtlich nicht abgesprochenen Alleingang erreichen? Das Ergebnis dieses anbiedernden, unterwürfigen Besuches ist dementsprechend mager. Die Kanzlerin stellte lediglich Finanzhilfen von 500 Millionen Euro und Unterstützung bei Visa-Erleichterungen für türkische Bürger in Aussicht. Außerdem spricht Merkel nun nicht mehr nur von einer privilegierten Partnerschaft, sondern betont, dass Beitrittsverhandlungen ergebnisoffen geführt werden müssten. Und die Kanzlerin sagte noch für dieses Jahr die Eröffnung eines neuen Kapitels - Kapitel 17, Wirtschaftspolitik - in den Beitrittsverhandlungen zu. Mit welchem Recht und mit welcher Zuständigkeit Merkel solche Zusagen macht, ist nicht bekannt, Tatsache ist aber, dass aufgrund des sehr ungünstigen Fortschrittsberichtes zur Türkei und wegen der demokratischen Rückschritte unter der autoritären Regentschaft Erdogans das in Arbeit befindliche Kapitel noch nicht schlussverhandelt ist. Nach den Regeln kann nur dann ein neues Kapitel eröffnet werden, wenn das Vorgängerkapitel erfolgreich geschlossen ist. Wovon spricht also unsere Kanzlerin konkret und mit welcher Befugnis?

Bei einem solch dürftigen Ergebnis kann man den Vorwurf nicht ersparen, dass Merkel Erdogan und Davutoglu von der AKP hofiert und vor der Wahl für solche Türken aufgewertet hat, die eine Annäherung an Europa anstreben. An Gespräche mit Vertretern der Kurdenpartei HDP hat die Kanzlerin offenbar überhaupt nicht gedacht. Kritisch zu sehen ist auch, dass Frau Merkel mit ihrem Besuch und ihren eigenmächtigen öffentlichen Aussagen die zukünftige Verhandlungsposition der EU mit dem geradezu erpresserisch agierenden Erdogan möglicherweise geschwächt hat. Die Kanzlerin - bisher eine Gegnerin eines türkischen EU-Beitritts - der manche Medien nun endlich „Haltung“ nachgesagt haben, ist aus innenpolitischer Verzweiflung offenbar umgefallen und hat versucht, mit möglicherweise teurem Aktionismus die deutsche Bevölkerung zu beruhigen. Das wird dann damit erklärt, dass Deutschland die Türkei in der Flüchtlingskrise dringend braucht. Aber auch das ist - wie vieles - nicht durchdacht.

Nicht Deutschland sondern die Europäische Union braucht die Türkei in der Flüchtlingskrise - aber nicht um jeden Preis! Denn die Türkei ist für Europa und die westliche Welt ein sehr schwieriger Partner. Der NATO-Partner Türkei verhält sich teilweise sehr unsolidarisch. Bei der Bekämpfung des Islamischen Staates  spielt die Türkei ein doppeltes Spiel. Die Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft und hat klare Kriterien für den Beitritt der Mitgliedstaaten. Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei laufen seit 2005 mit schleppendem Erfolg, weil die Türkei die Kriterien bei weitem nicht erfüllt. Dies gilt nicht zuletzt in zentralen Bereichen wie Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaat und Minderheitenschutz, Pressefreiheit. Dem letzten Fortschrittsbericht zufolge macht die Türkei bei der Erfüllung der Kriterien sogar deutliche Rückschritte. Jegliches Anbiedern und jeglicher Schmusekurs der EU gegenüber der Türkei und dem nationalistischen, chauvinistischen und zunehmend autokratisch agierenden Erdogan verbietet sich daher,

wenn die EU nicht noch weiter an Glaubwürdigkeit und Vertrauen verlieren will.

Erdogan hat bereits mit dem Aktionsplan erhebliche Erfolge erzielt. Die humanitäre Hilfe und die finanzielle Unterstützung der Türkei für die Versorgung der Flüchtlinge werden nicht reichen, aber faire Ergebnisse sollten nach den Standards internationaler Verhandlungen erreicht werden, nicht durch plan- und ergebnislose Einzelaktionen von Politikern, die immer gerne die Solidarität der Mitgliedsstaaten einfordern aber offenbar verzweifelt eigenmächtig entscheiden, wo abgestimmtes und gemeinschaftliches Handeln gefordert ist.

Mit den Unterwerfungsgesten und mit dem „Bahnhof“ in Brüssel ist Erdogan an sich schon hinreichend gut bedient, ohne dass eine einzige der Forderungen des Aktionsplanes durch die Türkei erfüllt ist. Darüber hinaus ist nicht sicher, dass die Türkei ihren Teil des Deals erfüllen will und kann. Denn mit dem Angebot von 500 Millionen Euro, Endsumme offen, fordern wir ja von der Türkei letztendlich, dass sie syrische Flüchtlinge in wie auch immer gearteten Lagern von der Weiterreise abhält und eine bezahlte Wärterrolle übernimmt. Die syrischen Flüchtlinge werden sich aber zumindest als Gäste der Türkei verstehen, die jederzeit weiterreisen können. Mit welchen Mitteln will man eine solche Weiterreise dann verhindern.  

Die EU-Kommission unter Juncker muss erfolgreicher arbeiten und gemeinsames, solidarisches Handeln in der Flüchtlingskrise fordern und gegebenenfalls auch mit Sanktionen erzwingen, wenn sie Bestand haben will. Einzelaktionismus hilft nicht weiter.

 

(19.10.2015)

 

 

nach oben

 

zurück zur Seite Klare Worte