Hans-Heinrich Dieter

Tatkräftige Taliban  (01.08.2012)

 

Im ehemals gefährlichsten Einsatzgebiet der Bundeswehr, Kundus, hat sich die Lage offenbar deutlich verbessert. Die Sicherheitsverantwortung in dieser Region konnte inzwischen sogar an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben werden. Das ist ein schöner Erfolg der Bundeswehr und ihrer Mitstreiter in der Nordregion. Da kommt berechtigte Hoffnung auf.

Die Zahl der Anschläge in Afghanistan nimmt nach Angaben der NATO nun aber wieder deutlich zu. Von April bis Juni 2012 sind demnach die Anschläge im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um elf Prozent angestiegen. Im Juni 2012 gab es so viele Angriffe wie seit dem Sommer 2010 nicht mehr.

Im Juli geht das heftig so weiter. Am 3. Juli haben die radikal-islamischen Taliban im Nordwesten Afghanistans nach Angaben der Regierung mindestens 25 regierungstreue Stammespolizisten in ihre Gewalt gebracht und in der Provinz Badghis verschleppt. Andere Quellen, wie auch die Taliban, erklären, die Sicherheitskräfte hätten sich mit ihren Waffen und Fahrzeugen den Aufständischen angeschlossen und sprechen gar von 70 Deserteuren.

Bei zwei Anschlägen im Süden Afghanistans sind am 9.Juli mindestens sieben Menschen ums Leben gekommen, unter ihnen zwei NATO-Soldaten. In der Provinz Kandahar starben zudem mindestens fünf Zivilisten, als ihr Auto von einem an der Straße versteckten Sprengsatz getroffen wurde

Am 14.Juli hat ein Selbstmordattentäter in der nordafghanischen Provinz Samangan bei einem Anschlag auf eine Hochzeitsfeier mindestens 23 Menschen mit in den Tod gerissen. Unter den Toten sind auch der einflussreiche Parlamentsabgeordnete und Milizenchef Ahmed Khan Samangani sowie der Geheimdienstchef der Provinz, Khan Mohammad. 60 weitere Menschen sollen verletzt worden sein.

Bei einem Anschlag im Norden Afghanistans sind am 18.Juli nach Angaben der Behörden 22 Versorgungsfahrzeuge der NATO zerstört worden. Drei Fahrer seien verletzt worden, erklärte der Gouverneur der Provinz Samangan, Ghulam Sachi Baghlani, am Mittwoch. Der angegriffene Konvoi befand sich offenbar auf dem Weg von Usbekistan zu NATO-Einheiten im Süden Afghanistans.

Am 22.Juli wurden dann die fünf Leichen entdeckt. Die Toten hatten nach Angaben von Augenzeugen die Hände auf dem Rücken gefesselt und waren perfiderweise mit Sprengfallen präpariert. Ein sechster Afghane entkam offenbar und machte die Taliban für die Hinrichtung verantwortlich. Die sechs Afghanen haben in der Provinz Wardak für die NATO gearbeitet.

Am 25.Juli wurde berichtet, dass in der Region Kandahar 20 afghanische Wachleute einer NATO-Einheit samt Waffen und Munition zu den Taliban übergelaufen sind. Vorausgegangen sei ein Streit der Afghanen mit australischen Soldaten der ISAF.

Am 27.Juli sind in der Provinz Kundus im nordafghanischen Einsatzgebiet der Bundeswehr in einer Moschee drei Menschen von Taliban ermordet worden. Bei den Opfern handelt es sich um einen Religionsführer, einen Clan-Chef und einen Polizisten. Die radikalislamischen Taliban hätten ihnen Zusammenarbeit mit der Regierung vorgeworfen.

NATO-Sprecher hingegen betonen gerne, dass die Taliban geschwächt seien und zu größeren Gefechten nicht mehr in der Lage wären. Die Taliban sind, hauptsächlich durch erfolgreiche Spezialkräfteeinsätze, wohl tatsächlich militärisch geschwächt, sie streben aber das offene und direkte Gefecht mit ISAF-Truppen überhaupt nicht an, weil das ohnehin nicht ihrer Taktik entspricht. Die islamistischen Taliban sind aber weder militärisch noch politisch „besiegt“ und können die Bevölkerung in ganz Afghanistan und vor allem auch afghanische Amtsträger mit Terroranschlägen in Angst und Schrecken versetzen sowie auch afghanischen Sicherheitskräften jederzeit Verluste zufügen. Darüber hinaus hat sich das Problem der Desertion afghanischer Sicherheitskräfte zu den Taliban möglicherweise etwas abgeschwächt, beseitigt ist es aber nicht. Das wird durch die Auflistung eines Teils der Aktionen im Juli 2012 sehr deutlich.

Aktionsbereite und tatkräftige Taliban passen natürlich nicht in das geplante Ausdünnen der ISAF-Kampftruppen bis 2014 und das Rückzugskonzept.

Am 25.Juli hat die NATO bei einer Pressekonferenz nun mitgeteilt, dass sie sich in einem weiteren Schritt auf dem Weg zum Abzug aus dem Land jetzt aus der Führung von Militäreinsätzen zunehmend zurückzieht und in eine Beraterrolle für die afghanischen Sicherheitskräfte übergeht. Dazu will die Allianz knapp dreihundert Beraterteams im ganzen Land - 90 % noch in diesem Jahr - stationieren, die die verschiedenen afghanischen Einsatzverbände unterstützen sollen. „Es ist nicht mehr notwendig, dass unsere Soldaten Seite an Seite mit den Afghanen in die Einsätze gehen“, sagte der australische Generalmajor Day. Das neue Konzept heißt „Security Force Assistance“ und soll das Partnering-Verfahren ablösen. Die Beraterteams umfassen etwa 20 bis 30 Offiziere und Unteroffiziere, die den afghanischen Verbänden auf allen Ebenen zugeordnet werden. Eine direkte Beteiligung dieser Berater an Kampfeinsätzen ist nicht vorgesehen. Allerdings sollen die Teams für die Afghanen Fähigkeiten bei der Nato anfordern, über die die afghanischen Sicherheitskräfte selbst nicht ausreichend verfügen. Dazu gehören Luftunterstützung, Artillerie, Bergung von Verwundeten, Aufklärung oder Spezialkräfte.

Die afghanischen Sicherheitskräfte sind derzeit ungefähr 350.000 Mann stark. Sie sollen nach Aussagen der ISAF zu 75 % für anspruchsvollere Operationen befähigt sein, wenn sie beraten werden. Die aktionsbereiten und tatkräftigen Taliban werden das ganz sicher intensiv auf die Probe stellen wollen. Die Sicherheitslage ist unverändert fragil. Die Entwicklung der Lage in Afghanistan ist nur schwer prognostizierbar. Daher wird auch das neue Konzept zunächst nicht die politisch erhofften militärischen Kräfte einsparen können. Deswegen muss nicht nur den deutschen Streitkräften für die Phase der Doppelbelastung in Afghanistan – bisherige Auftragserfüllung und gesicherte Rückverlegung – das erforderliche Kräftedispositiv, einschließlich einer großzügigen Reserve, zugestanden werden, wenn der Auftrag erfolgreich erfüllt werden soll.

(01.08.2012)

 

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