Hans-Heinrich Dieter

NATO-Bündnisfall? (14.04.2012)

 

1949 wurde die NATO als militärisches Verteidigungsbündnis und als Wertegemeinschaft westlicher Demokratien zum Schutz vor der Sowjetunion geschaffen. In der Zwischenzeit hat sich die Sicherheitslage deutlich verändert und mit ihr die NATO von einem rein defensiven Militärbündnis zu einem Instrument auch aktiver Friedensgestaltung. Die NATO stellt sich in einem fortlaufenden Prozess auf die neuen sicherheitspolitischen Anforderungen zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten ein. Der Partnerschaft mit Russland kommt eine besondere sicherheitspolitische Bedeutung zu.

Gemäß NATO-Vertrag, Artikel 5, leisten sich die Mitgliedstaaten im Falle eines Angriffs militärisch Beistand. Ein Angriff auf ein Mitglied wird als Angriff auf alle anderen verstanden. Die Beistandspflicht gilt allerdings nicht automatisch, jedes Land bleibt hinsichtlich der Entscheidung, wie es seine Beistandspflichten erfüllen will, souverän. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte hat die NATO den so genannten Bündnisfall nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrages im Zusammenhang mit den Anschlägen vom 11.09.2001 in den USA ausgerufen. Eine durchaus sehr fragwürdige Entscheidung.

Nach Artikel 6 gilt als „bewaffneter Angriff auf eine oder mehrere der Parteien“ jeder bewaffnete Angriff auf das Gebiet eines der Mitgliedstaaten in Europa oder Nordamerika, auf die algerischen Departements Frankreichs, auf das Gebiet der Türkei … . Auf den ersten Blick könnte man da meinen, dass der türkische Premierminister Erdogan nach einem Feuergefecht zwischen flüchtigen syrischen Aufständischen und syrischen Soldaten im syrisch-türkischen Grenzgebiet dem Regime in Damaskus zu Recht mit dem NATO-Bündnisfall droht.

In solchen Fällen gilt aber eher der Sinn des gesamten Vertragswerkes als der Buchstabe einzelner Artikel des Vertrages. Um die Beistandspflicht nach Artikel 5 NATO-Vertrag wirksam werden zu lassen, muss wohl ein Angriff im Sinne der UN-Definition, also eine militärische Aggression größeren Ausmaßes, die die Integrität des Mitgliedslandes und seiner Bürger gefährdet, gegeben sein. Das ist hier nicht der Fall. Und wenn die Türkei der Auffassung ist, dass die Sicherheit des Landes durch syrische Aggression gefährdet sei, dann ist die Türkei militärisch sicher in der Lage, die geeigneten militärischen Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Aber so weit ist die Türkei noch lange nicht und vom NATO-Bündnisfall sind wir noch meilenweit entfernt - zumal nach Artikel 4 des Vertrages die Mitglieder einander zunächst zu konsultieren haben, wenn einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht sieht. Solche Konsultationen gab es noch nicht.

Die unzulässige und eher innenpolitisch motivierte Drohgebärde des türkischen Premier Erdogan gegenüber Syrien dient daher vornehmlich türkischen Interessen und ist nicht ernst zu nehmen. Die NATO reagiert denn auch gelassen und unaufgeregt. Aktive Friedensgestaltung mit militärischen Mitteln ist – wie das Engagement im libyschen Bürgerkrieg sehr deutlich gemacht hat - mit erheblichen Risiken verbunden und hat ihre Grenzen. Die NATO darf sich außerdem nicht für nationale Politik instrumentalisieren lassen, schon überhaupt nicht durch einen türkischen Premierminister, der gewohnt selbstherrlich agiert.

(14.04.2012)

 

 

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