Hans-Heinrich Dieter

Mitleiderregendes Europa   (19.12.2015)

 

Die Europäische Union ist in einem bedauernswerten, ja geradezu mitleiderregenden Zustand. Die Finanzkrise ist nicht überwunden, die Staatsverschuldung ist in den meisten Mitgliedstaaten nicht im Griff, die massiven Strukturprobleme der meisten EU-Staaten sind nicht oder nur unzureichend behoben, das Wirtschaftswachstum der südeuropäischen Staaten ist so niedrig, dass die EZB die Niedrigstzinspolitik zunächst nicht ändern wird, die Jugendarbeitslosigkeit ist teilweise so hoch, dass sich junge Bürger radikalisieren und die Flüchtlingsproblematik spaltet Europa. Die Europäische Union hat massiv an Ansehen verloren und wird als Partner in der Weltpolitik wenig ernst genommen. Die EU zeigt sich handlungsunfähig.

Denn die EU ist eine strukturschwache Solidar-Gemeinschaft von 28 mehr oder weniger egoistischen Nationalstaaten. Das Konsensprinzip führt dazu, dass Entscheidungen nur auf der Grundlage des kleinsten gemeinsamen Nenners getroffen werden. Solche Entscheidungen entwickeln naturgemäß nur stark eingeschränkte politische Schlagkraft. Wenn die Staaten Europas sich in unserer globalisierten Welt auf der Grundlage unserer gemeinsamen Werte in Krisen stabilisierend einbringen wollen, dann geht das mit Aussicht auf Erfolg nur gemeinsam. Diese gemeinsame EU-Politik gibt es aber genauso wenig wie eine gemeinsame EU-Außen- und Sicherheitspolitik, weil der Wille zu gemeinsamer Politik stark zu wünschen übrig lässt und die EU-Struktur effektive Machtausübung der Gemeinschaft verhindert. Solidarität zeigen einige der Mitgliedstaaten nur, wenn es den eigenen nationalen Interessen nützt. Die EU ist außerdem nur noch eine stark eingeschränkte Wertegemeinschaft, weil sich einige Mitgliedstaaten den gemeinsamen Werten nicht verpflichtet fühlen und die Union offenbar eher als eine Transfergemeinschaft verstehen, in der leistungsfähige Gesellschaften kaum leistungsfähige Mitglieder alimentieren. Darüber hinaus fehlen derzeit leistungsstarke, durchsetzungsfähige und glaubwürdige EU-Persönlichkeiten, die eine gemeinsame Politik gestalten und abstimmen könnten. Wer wird schon von einer derart schlecht verfassten Europäischen Union in der aktuellen Flüchtlingskrise schnelle, hilfreiche, gemeinsame und solidarische Maßnahmen zur Bewältigung der großen Zahl von Migranten erwarten? In den letzten Monaten herrschte eher Chaos und Streit.

Tatsache ist, dass die Europäische Union ihre Außengrenzen nur unzureichend schützen kann. Die EU hat 1,5 Millionen Menschen ihre Grenzen illegal überschreiten lassen und keine wirksamen Instrumente, das zu verhindern. Die Union hat im Mai beschlossen, 40.000 Flüchtlinge auf 26 Staaten aufzuteilen, aber nur 182 konnten bis heute wirklich verteilt werden. Das ist mehr als peinlich und kommt einer Bankrotterklärung nahe. Die Zeit drängt wirklich.

Unter diesem Zeitdruck fand der letzte EU-Gipfel in Brüssel statt. Es ist bezeichnend für den erbärmlichen Zustand der Union, dass dabei keine greifbaren Ergebnisse herausgekommen sind. Eine Entscheidung über die von der EU-Kommission vorgelegten Ideen für den Aufbau eines europäischen Grenz- und Küstenschutzes mit 1000 festen Mitarbeitern und einer Reserve von 1500 Grenzschützern wurde bis Ende Juni 2016 vertagt. Ob der Vorschlag, "in dringenden Fällen" und insbesondere, wenn die Funktionsfähigkeit des Schengen-Raumes gefährdet ist, FRONTEX-Beamte notfalls auch gegen den Willen einer Regierung in den Einsatz zu schicken, jemals die Zustimmung der Mitgliedstaaten finden wird, ist höchst zweifelhaft. In der Bildung von Kontingenten zur Flüchtlingsverteilung ist die EU noch nicht weitergekommen. Das Einrichten von Hotspots und Auffanglagern kommt ebenfalls nicht voran. Für die gemeinsame Problemlösung ist mindestens ein halbes Jahr verloren.

Die Mitgliedstaaten haben lediglich mehrheitlich zugesichert, sich an der finanziellen Unterstützung zu beteiligen, damit die Türkei eine ungebremste Einreise von Flüchtlingen nach Griechenland stoppt. In dem Zusammenhang muss die Europäische Union allerdings stark aufpassen, dass nicht sie die Reste ihrer Glaubwürdigkeit und Würde verliert. Denn die Türkei lässt sich bisher zwar dafür feiern, dass sie so viele Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen hat. Die Türkei beherbergt diese Flüchtlinge aber nicht auf der Grundlage der Menschenrechte, sondern lässt sie in überfüllten Lagern weitgehend unversorgt unwürdig vor sich hin vegetieren. Die Flüchtlinge dürfen nicht arbeiten und die Kinder dürfen nicht zur Schule gehen. Die Türkei ist bisher auch nicht konsequent gegen Schlepperbanden vorgegangen und hat die Grenzen zu Griechenland nur unzureichend kontrolliert. Das zeigt staatliches Versagen oder bewusstes staatliches Handeln, um den Flüchtlingsdruck auf Europa unerträglich zu erhöhen. Jetzt hat die EU der Türkei drei Milliarden Euro in Aussicht gestellt und will, dass damit die Lage der Flüchtlinge in der Türkei menschlich erträglicher gestaltet wird. Bisher schottet sich die Türkei aber nur massiv ab und entwickelt sich zu einer Art Staatsgefängnis, um die Voraussetzungen für die Milliardenzahlungen zu schaffen.

Die Hilfsorganisation Pro Asyl hat bereits schwere Vorwürfe gegen die Bundesregierung und die Europäische Union erhoben. Geschäftsführer Günter Burkhardt sagte in einem Gespräch mit der „Neuen Osnabrücker Zeitung“: „Die Türkei ist kein sicherer Staat für Flüchtlinge. Trotzdem soll das Land in der Flüchtlingskrise jetzt für Deutschland und die EU die Drecksarbeit machen.“ Bleibt abzuwarten, was die Auswertung des Pro Asyl-Berichtes ergibt.

Teile der EU und Kanzlerin Merkel lehnen eine Abschottung Deutschlands gegen Flüchtlinge ab, zahlen aber Schmiergeld an die Türkei, damit Flüchtlinge abgeschottet werden. Der mitleiderregende Eindruck der EU wird ärgerlich ergänzt durch doppelte Standards, doppelte Moral und unwürdige Heuchelei!

(19.12.2015)

 

 

nach oben

 

zurück zur Seite Klare Worte