Hans-Heinrich Dieter

Homo emotionalis   (21.09.2020)

 

In den sozialen Netzwerken werden auch deutsche Staatsbürger immer häufiger als Homo emotionalis (gefühlsbetonter Mensch) bezeichnet. Das hat wohl etwas damit zu tun, dass Emotionen und persönliche Einstellungen immer häufiger ausschlaggebend sind für Kaufentscheidungen beim online-shopping und die Käufer nicht selten von Influencer*innen beeinflusst werden. Der Homo emotionalis hat offenbar den Homo sapiens (vernünftiger Mensch) vielfältig abgelöst!

Das ist eine sehr erstaunliche und nicht gerade positive Entwicklung. Am Anfang der Bundesrepublik Deutschland ging es darum, seelischen und geistigen Abstand zur Hitlerdiktatur zu schaffen, sich für die Demokratie zu öffnen und ein neues Staatswesen sowie eine demokratisch gesinnte Gesellschaft von mündigen Bürgern aufzubauen. Da wurden Menschen vom Typ Homo rationalis oder auch Homo oeconomicus gebraucht - an der Vernunft orientierte und hauptsächlich wirtschaftlich denkende Menschen. Als Ludwig Ehrhard dann die Soziale Marktwirtschaft zum Markenkern des deutschen Gesellschaftssystems machte und das „deutsche Wirtschaftswunder“ gelang, verlagerte sich der Schwerpunkt auf einen Homo oeconomicus, der hauptsächlich wirtschaftlich denkt und am ständigen Wirtschaftswachstum und an der Steigerung seines eigenen Wohlstandes interessiert ist. Die deutsche Nachkriegsgesellschaft war sehr leistungsorientiert und hat sehr viel erreicht. Und die deutschen Staatsbürger haben sich sehr unterschiedlich und vielfältig in unsere freiheitlich demokratische Grundordnung eingebracht. Man begann, sich auf dem Erfolg der deutschen Nachkriegsgeschichte einzurichten und teilweise auszuruhen. Unsere Demokratie wurde als gegeben angesehen – also musste man sich nicht explizit darum kümmern und sorgen. Woodstock mit der Hippiewelle und die 68er Bewegung haben dann die Gefühlswelt der Bürger in den Vordergrund gestellt und den vernunftbegabten Bürger mit gesundem Menschenverstand in den Hintergrund gedrängt. Eine Ursache dafür war sicher auch die Tatsache, dass der politischen und staatsbürgerlichen Bildung in der schulischen und beruflichen Ausbildung keine Bedeutung beigemessen wurde. Die insgesamt sehr guten Lebensbedingungen und der vergleichsweise große Wohlstand haben aber auch Verlustängste erzeugt und das Erlebnis des ersten bundesdeutschen RAF-Terrorismus hat eine Grundangst mit sich gebracht, die später auch international als „German Angst“ bekannt wurde.

Dann hat „das nukleare Gleichgewicht des Schreckens“, das in Zeiten des Kalten Krieges entscheidend dazu beigetragen hat, die Sicherheit der Westlichen Welt zu garantieren, dazu beigetragen, dass in der westdeutschen Bevölkerung die Nutzung der Kernenergie zu einem regelrechten Angstthema wurde.

Daher haben „Atomkatastrophen“ einen ganz besonderen Stellenwert im Gefühlsleben der deutschen Bürger. Jeder Mensch kennt die schlimmen Folgen von Nuklearexplosionen und die langfristige Wirkung radioaktiver Verseuchung seit dem Abwurf der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki. Trotzdem haben sich viele Staaten und Gesellschaften entschieden, die Kernenergie friedlich zu nutzen, um den ständig rasant steigenden Energiebedarf in unserer teilweise hochindustrialisierten Welt zu decken. Die sehr schnelle Entwicklung von Technologien hat die Menschen sicher auch in der Annahme bestärkt, dass die Atom-Technologie weitestgehend beherrschbar sei. Die Katastrophe von Tschernobyl (1986), der bis dahin einzige Super-GAU, hat zum Umdenken geführt, auch weil viele Regionen Europas durch in die Luft geschleudertes radioaktives Material beeinträchtigt wurden. Umfragen zur Folge hielten sich damals in Deutschland knapp 70 Prozent der Bürger für Atomkraftgegner. In dieser Zeit entwickelten sich die „Wutbürger“!

Die besonders ausgeprägte deutsche Angst vor Atomkatastrophen wurde bei der Dreifach-Katastrophe von Fukushima sehr deutlich. Das Jahrhundert-Erdbeben der Stärke 9 im Norden Japans und der folgende Tsunami hatten ungeheure, ja geradezu apokalyptische Zerstörungen und Tausende Tote zur Folge. Die deutschen Medien und mit ihnen die deutsche Bevölkerung haben das mit Bedauern und auch Anteilnahme zur Kenntnis genommen. Berichterstattung, Anteilnahme und Mitleid wurden aber sofort überlagert und stark verdrängt durch die vom Tsunami verursachte AKW-Havarie in Fukushima. Angstorientierte Berichterstattung beherrschte die Medien, die Bürger wurden in eine geradezu irrationale Angst getrieben und Politiker nutzten die Gelegenheit, um die Angst weiter zu schüren und daraus politisches Kapital zu schlagen.

In Japan hingegen herrschte kontrollierte Furcht vor den Auswirkungen der Katastrophe unmittelbar vor der Haustür, in Deutschland dominierte Angst vor irrealen Unwägbarkeiten wegen einer unvergleichlichen Katastrophe sehr weit entfernt. Diese irrationale deutsche Angst wurde und wird von politisch Interessierten sehr planvoll genutzt. Und unsere Politiker haben deswegen eine geradezu irrationale Angst vor irrational wählenden Bürgern und handeln irrational hektisch, gegen bisher politisch vertretene Ãœberzeugungen, und deswegen höchst unglaubwürdig. Die Folge waren unverständliche und  prinzipienlose  Kehrtwendungen und Kurskorrekturen, ohne dass Fehleranalysen als Grundlage für Rückschlüsse auf den Betrieb deutscher AKW und rationales politisches Handeln vorlagen. Statt das Programm und den politischen Kurs, für den sie vertrauensvoll gewählt wurden, verständlich zu erklären, vollzogen die deutschen Volksvertreter in Regierungsverantwortung mit „Merkels Energiewende“ dann ohne plausible politische Begründung opportunistisch und wendehalsig eine180-Grad-Kursänderung, um in höchstem Maße populistisch den Angst- und Bauchgefühlen der vielfach politisch unmündigen Bürger zu entsprechen, aber ohne das langfristige Wohl der Bürger Deutschlands im europäischen Rahmen im Auge zu haben.

Auf diese politische Fehlleistung folgte die Flüchtlingskrise 2015. In dieser Flüchtlingskrise haben wir zum Teil die staatliche Kontrolle verloren und sind mit unserer unverantwortlichen, die innere Sicherheit gefährdenden und langfristig auch existenzbedrohenden Politik teilweise aus dem europäischen System ausgestiegen. Wir haben viele EU-Mitgliedstaaten gegen uns aufgebracht und durch irrationale Eigenwilligkeit europäische Kompromisslösungen zum Teil verhindert. Deutschland hat sich durch verantwortungslose Willkommenspolitik, unterstützt durch willfährige Willkommensmedien, selbst hoffnungsarm überfordert, dass man von Staatsverschulden sprechen kann. Außerdem gestaltet sich die menschenwürdige Versorgung der zu vielen Flüchtlinge und Migranten bis heute schwierig und teilweise beschämend peinlich. Diese neuerliche politische Fehlleistung hat die deutsche Bevölkerung verunsichert, verängstigt und das Vertrauen in Politiker verlieren lassen. Darüber hinaus wurde die Bevölkerung teilweise gespalten. Dazu haben die links/rot/grünen Mainstream-Medien in so starkem Maße beigetragen, dass rechtsorientierte Bürger die Medien als „Lügenpresse“ beschimpfen. Ursache dafür ist auch das teilweise entstandene Mainstream-Meinungsdiktat, das andere Meinungen nicht zulässt oder verunglimpft und letzten Endes unsere Diskussionskultur zerstört hat. Wer bei uns bürgerliche Konventionen verfolgt und ein gemeinsames Leben auf der Grundlage unserer Kultur, nach unseren Moralvorstellungen und festgelegten Regeln fordert, wird inzwischen bei uns als „konservativ“ verunglimpft, weil das ja eher rechtspopulistisch und bei den Stammtischen anzusiedeln sei. „Konservativ“ ist für den links/rot/grünen Mainstream geradezu ein Schimpfwort geworden. In diesem Klima kann man natürlich kaum noch diskutieren, weil nicht-linke Meinungen sehr schnell als dumpfbackig oder pekidistisch diffamiert werden. Wir verlieren gerade an Maß, Mitte und freiheitlichem, liberalem Lebensstil, weil einem großen Teil der Bevölkerung, der Politiker aber auch der Medienvertreter der gesunde Menschenverstand abhandengekommen zu sein scheint.

Der Begriff Homo emotionalis bezieht sich also in Deutschland nicht nur auf den von  Influencer*innen beeinflussten online-shoppenden Staatsbürger, sondern diejenigen deutschen Bürger, die unzureichend politisch gebildet sind und sich nicht vernunftbegabt in die verantwortungsbewusste Gestaltung und Förderung unserer Demokratie einbringen können oder wollen.

Und nun leben wir in der Corona-Krise mit unbestimmtem Ausgang. Nach der Krise werden die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen deutlich – leider zum Negativen – verändert sein. Die deutsche Wirtschaft wird sich nicht so schnell erholen können wie von Politikern und Medien schöngeredet, denn die deutsche Autoindustrie als wichtigster Wirtschaftsmotor hat die technische Entwicklung zur Elektromobilität verschlafen und durch kriminelle Energie im Rahmen der Dieselskandale das Qualitätsmerkmal „made in Germany“ nachhaltig beschädigt und sehr viel für den Export wichtiges Vertrauen verspielt. Die umfangreiche Autozulieferindustrie wird darunter noch sehr lange leiden und wir werden es mit vielen Insolvenzen zu tun bekommen und mit der damit verbundenen Arbeitslosigkeit. In der Nutzung digitaler Technik ist Deutschland inzwischen ein – teilweise verspottetes – Entwicklungsland. Unsere Soziale Marktwirtschaft ist inzwischen zu einer Art sozialistischen Staatswirtschaft verkommen und die inzwischen sehr hohe Schuldenlast wird noch unsere Enkel übermäßig belasten. Bei den Bildungserfolgen rangiert die bisher größte Volkswirtschaft inzwischen nur noch im Mittelfeld. Diese ungemütliche Lage wird natürlich noch verschärft durch die Umwelt und Klima-Problematik! Und das skizziert nur einen kleinen Teil der Herausforderungen, die wir bis 2050 bewältigen müssen.

Die anstehenden Probleme sind nicht durch gefühlsbetonte, ängstliche und auch egoistische Bürger zu bewältigen. Unsere Freiheitlich Demokratische Grundordnung ist in höchstem Maße schützenswert. Deswegen darf unsere Demokratie nicht zu einer angstorientierten, prinzipienlosen und eher beliebigen Stimmungsdemokratie verkommen. Deswegen brauchen wir einen neuen Gesellschaftsvertrag. Dazu müssen wir die politische Bildung unserer Bürger deutlich verbessern. Wir müssen das demokratische Verantwortungsbewusstsein fördern und stärken, denn nur so ist solidarisches und gemeinschaftsorientiertes Handeln zu ermöglichen. Wir müssen zu einer sachorientierten demokratischen Diskussionskultur zurückfinden und durch Information und Kommunikation Existenz- und Katstrophenängste überwinden. Wir werden unsere zukünftigen Probleme nicht national lösen können, deswegen müssen wir uns multilateral stärker engagieren und als europaorientierte deutsche Verfassungspatrioten stärker und besser in die EU einbringen. Dazu brauchen wir den Bürger als Homo sapiens!

(21.09.2020)

 

Bei Interesse lesen Sie auch zur Thematik:

http://www.hansheinrichdieter.de/html/alleineineuropa.html

http://www.hansheinrichdieter.de/html/katastrophenangst.html

http://www.md-office-compact.de/MenscheninunsererDemokratie.htm

http://www.hansheinrichdieter.de/html/verfallderdemokratie.html

http://www.hansheinrichdieter.de/html/hippie-republik.html

 

 

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