Hans-Heinrich Dieter

Außenpolitisch handlungsfähige EU   (03.10.2020)

 

Die Europäische Union, und damit auch Europa, ist in einem bedauernswerten, ja geradezu mitleiderregenden Zustand. Die Finanzkrise ist immer noch nicht vollständig überwunden, die Staatsverschuldung ist in den meisten Mitgliedstaaten nicht im Griff, die massiven Strukturprobleme der meisten EU-Staaten sind nicht oder nur unzureichend behoben und die Flüchtlings-problematik spaltet Europa mehrfach und nachhaltig. In der Pandemie hat die EU erst sehr spät zu einigermaßen gemeinsamem Handeln gefunden. Mit einem massiven Schuldenprogramm hat sich die EU von ihren Prinzipien verabschiedet und entwickelt sich zu einer Schulden-, Fiskal- und Transferunion. Bei der Krisenbewältigung in Syrien und in Libyen ist die EU nicht erfolgreich. Der Streit zwischen der Türkei und Griechenland um Seegebiete im östlichen Mittelmeer ist noch nicht beigelegt und insgesamt findet die EU nicht zu einer politisch angemessenen und würdevollen Haltung gegenüber der Türkei – in Realität zeigt sich die EU immer wieder anfällig für die politischen Erpressungen Erdogans. Bei der Unterstützung der Opposition in Belarus war die EU sehr zögerlich und hat nun endlich einen Sanktionskompromiss gefunden. Die EU hat noch keinen bis 2027 gültigen Haushalt beschließen können und bis jetzt hat sich die deutsche Ratspräsidentschaft - für viele EU-Bürger enttäuschend – geringfügig ausgewirkt. Die Europäische Union hat so massiv an Ansehen verloren und wird als Partner in der Weltpolitik sehr wenig ernst genommen. Das muss sich ändern, denn die EU wird in unserer „aus den Fugen geratenen Welt“ mehr denn je als Geopolitischer Akteur gebraucht!

Bei dem jüngsten EU-Sondergipfel in Brüssel standen denn auch fast ausschließlich außenpolitische Themen auf der Agenda. Aber die außen-politische Handlungsfähigkeit der EU ist von ihrer Struktur und von den politischen Grundlagen her stark eingeschränkt und deswegen gibt es auch keine wirklichen zukunftsfähigen Entscheidungen – höchstens den einen oder anderen schwachen Kompromiss. Die EU hat keine gemeinsam definierte Außen- und Sicherheitspolitik als Rahmenbedingung einer erfolgreichen europäischen Außenpolitik. Denn seit 1993 redet die EU von einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), aber es wurde bisher keine real definierte und angewandte gemeinsame diesbezügliche Politik gemacht. Die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit ist zudem durch die erforderliche Einstimmigkeit bei außenpolitischen Entscheidungen und die sich verstärkenden nationalistischen und unsolidarischen Tendenzen einiger Mitgliedstaaten sehr stark eingeschränkt.

Und weil das so ist, kommt es immer wieder zu Sonderwegen und Alleingängen einzelner Mitgliedstaaten. Deutschland hat mit seiner nicht abgestimmten Energiewende 2011 einen „Alleingang“ zum Nachteil der deutschen Bevölkerung vollzogen. Um uns herum werden weiterhin Atomkraftwerke betrieben und gebaut, die teilweise weit hinter den deutschen Sicherheitsstandards liegen. Mit unserer „Willkommenskultur“ in der Flüchtlingskrise 2015 haben wir die EU so nachhaltig gespalten, dass eine gemeinsame und solidarisch gehandhabte Flüchtlings- und Asylpolitik der EU nicht mehr realisierbar zu sein scheint. Dann hat Deutschland vordergründig für die EU einen Flüchtlingsdeal mit dem Autokraten Erdogan ausgehandelt, der die EU der politischen Erpressung durch die Türkei bis heute aussetzt. Außerdem hat Deutschland gegen den Willen der Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten den Nord Stream 2 - Deal mit Putin geschlossen, der wiederum zur Spaltung der EU beiträgt.

Dann hat Präsident Macron 2017 in einer euphorischen Rede an der Sorbonne in Paris Visionen von grundlegenden Weiterentwicklungen der Europäischen Union dargelegt und sich begeistert zu Europa bekannt. Er ist der Meinung, dass Europa bereits zu Beginn des nächsten Jahrzehnts eine handlungsfähige Eingreiftruppe, einen gemeinsamen Verteidigungshaushalt sowie eine gemeinsame Einsatzdoktrin braucht und will dazu eine Europaarmee in Ergänzung zur NATO aufbauen. Im Vorfeld haben Deutschland und Frankreich bereits über verstärkte Zusammenarbeit in der Rüstungsforschung sowie über gemeinsame Kommandostrukturen nachgedacht und von einer ”Armee der Europäer” gesprochen. Zusätzlich schlägt Macron die Schaffung einer Ausbildungsakademie und eines zivilen Hilfskorps vor, das bei Katastrophen auch in Ãœbersee eingesetzt werden soll. In der NATO gibt es bereits multinationale Strukturen, Austausch von Personal an Ausbildungsakademien und handlungsfähige Eingreiftruppen mit aktueller Einsatzerfahrung auf der Grundlage von NATO-Einsatzgrundsätzen. Da es keine „GASP“ gibt, gibt es auch noch keine Grundlage für eine gemeinsame Einsatzdoktrin einer europäischen Armee. Es ist auch nicht bekannt, welche Mitglieder der vielfältig zerstrittenen EU sich an einer Europaarmee beteiligen würden, und außerdem sind Aufgabenabgrenzungen einer „europäischen Verteidigungsunion“ zur NATO, oder besser noch eine vertiefte Zusammenarbeit und Aufgabenteilung mit der NATO nicht geklärt. „Zu Beginn des nächsten Jahrzehnts“ wird die EU also weder eine „handlungsfähige Eingreiftruppe“, noch einen „gemeinsamen Verteidigungshaushalt“ und auch keine „gemeinsame Einsatzdoktrin“ haben. Macrons Vorstellungen sind diesbezüglich höchst illusionär. Da ist es für unsere Sicherheit in Europa daher noch in langer Perspektive sehr gut, dass es die NATO gibt, die durch reale und tatkräftige Sicherheitspolitik überzeugt.

Das sieht Macron anders. Wir erinnern uns an die überspitzte und schädliche Aussage von Macron im Herbst 2019: „Was wir gerade erleben, ist für mich der Hirntod der NATO.“ Er wollte damit zum Ausdruck bringen, dass auf die USA als westliche Führungsmacht – auch als Führungsnation der NATO – kein Verlass mehr ist. Das schwächt die NATO natürlich erheblich, macht sie aber noch lange nicht handlungsunfähig oder gar „hirntot“! Was will der französische Präsident also wirklich? Er will sich als sicherheitspolitischer Führer der EU in Szene setzen, er will die sicherheitspolitisch verschlafenen und knauserigen Europäer wachrütteln und zu mehr Investitionen in die gemeinsame Verteidigung animieren. Er will Europa von den USA unabhängiger machen und sagt gleichzeitig später bei anderer Gelegenheit – richtigerweise – dass „unsere Sicherheit …langfristig durch ein starkes Bündnis mit den Vereinigten Staaten von Amerika garantiert“ wird. Dieses Bündnis ist die NATO, die deswegen gestärkt werden muss, um handlungsfähig zu bleiben. Bisher haben sich die euphorischen Vorstellungen Macrons als wenig realitätsbezogen erwiesen und deswegen sind die Realisierungschancen auch sehr gering. Der Egozentriker Macron verbreitet keine Visionen, sondern Illusionen, die einer gemeinsamen Europäischen Außenpolitik nicht nützen. Das ist ärgerlich!

Sehr erschreckend ist es dann, wenn Macron – ohne Absprache mit den übrigen G7-Staaten -  wenige Tage vor dem G7-Gipfel in Biarritz zunächst Putin traf und erklärte, man müsse wieder mehr miteinander reden und zu abgestimmtem Handeln finden, allen Differenzen zum Trotz, denn: „Ein Blick auf die Landkarte zeigt, dass Russland zu Europa gehört.“ Und vor dem letzten NATO-Gipfel hat Macron – nicht nur mit seiner Hirntod-Aussage - insbesondere die osteuropäischen Partner irritiert, als er gegenüber Putin liebedienerisch von einem Europa von Lissabon bis Wladiwostok sprach und damit wohl deutlich machen wollte, dass Russland nicht länger als „Gegner“ betrachtet werden sollte, weil wir Russland aus seiner Sicht für die europäische politische Zusammenarbeit brauchen, insbesondere weil der internationale Terrorismus der eigentliche Feind ist und China sich zunehmend zu einer problematischen Herausforderung entwickelt. Diese sehr positive Beurteilung Russlands durch Macron teilen die mittel- und osteuropäischen Partner mehrheitlich nicht und so unterstützt Macron Putin geradezu bei seinen Spaltungsversuchen, sowohl der NATO als auch der EU. Die „politische Lichtgestalt“ Macron hat sich leider - zum Nachteil der EU und der NATO – selbst als Illusionist Macron bestätigt!

Und da fragt man sich z.B. auch, warum Deutschland und Frankreich mit der Ukraine und Putin im „Normandie-Format“ über die friedliche Zukunft der Ukraine verhandeln und nicht die EU. Und warum hat die EU noch keine Anstrengungen unternommen, die europäische Wertegemeinschaft als ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat zu vertreten. Warum bringt sich die EU als Staatengemeinschaft nicht stärker in die G7 und G20-Formate ein? Die EU hat einen Außenbeauftragten und der muss in engem Zusammenwirken mit der Kommission, der EU-Ratspräsidentschaft und mit dem EU-Parlament die außenpolitischen Interessen der EU kraftvoll und zukunftsorientiert vertreten, ohne sich auf den „stotternden und fehlzündungsgeplagten“ französisch-deutschen Motor zu verlassen.

Eine handlungsfähige außenpolitische „Großmacht“ wird die EU nicht durch vollmundige Reden und „Ankündigungen“. Die EU muss sich reformieren und weiterentwickeln von einer friedensstiftenden Nachkriegs-Wirtschaftsunion zu einem international handlungsfähigen außen- und sicherheitspolitischen Akteur mit leistungsfähigen politischen Instrumenten, die sie auf der Grundlage einer Gesamtstrategie machtvoll zur Wirkung bringen kann. Dazu muss das Einstimmigkeitsprinzip in außenpolitischen Angelegenheiten durch ein Mehrheitsrecht ersetzt werden. Das alles wird nur durch die allmähliche, schrittweise Gestaltung einer glaubhaften und wirkungsvollen globalen außenpolitischen Rolle gelingen. Dazu muss die EU in sehr engem Zusammenwirken mit der NATO langfristig auch über hinreichende Handlungsfähigkeit bei militärischer Machtausübung verfügen!

(03.10.2020)

 

 

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