Hans-Heinrich Dieter

„Flucht“ aus Afghanistan?   (25.06.2011)

 

Präsident Barack Obama hatte angekündigt, von Juli 2011 an die ersten US-Soldaten wieder nach Hause zu holen. Solche politischen Rückzugstermine waren und sind nicht an der konkreten Sicherheitslage der afghanischen Bevölkerung orientiert, sie dienen nur den amerikanischen innenpolitischen Bedürfnissen und den unrealistischen Vorstellungen von Karzai. Obama hält sich nun in großem Stil an seine Ankündigungen. Aber was innenpolitisch klug sein mag, muss sicherheitspolitisch nicht unbedingt viel Sinn ergeben.

Die „betroffenen“ Militärs, Generalstabschef Mullen und ISAF-Befehlshaber Petraeus haben – natürlich mit allem schuldigen Respekt – deutliche Kritik geübt und ihrer Sorge über den übereilten Rückzug Ausdruck verliehen. Sie hatten den Beginn des Rückzuges aufgrund der immer noch sehr fragilen Lage mit erheblich weniger Truppen empfohlen.

Der Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, Admiral Di Paola, soll die Rede Obamas zum Beginn des Truppenabzugs aus Afghanistan als „sehr gut“ gelobt haben, südeuropäische Militärdiplomaten sind halt etwas überschwänglich. Er sagt aber zwei Atemzüge später „Ich hoffe, dass es keinen Wettlauf gibt.“ Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

Der „Wettlauf“ kündigt sich nun mehr oder weniger vorsichtig an. Andere Teilnehmerstaaten, wie Frankreich, haben sich beeilt, selbst die ersten Teilrückzüge anzukündigen. Außenminister Westerwelle begrüßt die Rede Obamas ausdrücklich, denn sie leite "einen Politikwechsel in Richtung einer politischen Lösung" ein. Der deutsche Außenminister tut so, als ob die USA und die internationale Staatengemeinschaft jemals eine „rein militärische Lösung“ verfolgt hätten und zeigt damit nicht gerade nachhaltiges Verständnis für die Entwicklung in Afghanistan.

Bevor der Außenminister im Hinblick auf beschleunigte deutsche Rückzugsmöglichkeiten zu euphorisch werden kann, erinnert Verteidigungsminister de Maizière an das Afghanistan-Mandat des Deutschen Bundestages, das der Bundesregierung lediglich zugesteht, alle sicherheitspolitisch vertretbaren Spielräume zu nutzen, soweit die Lage dies erlaubt und die eigenen Truppen sowie die erzielten Fortschritte nicht gefährdet werden. Wenn die Bundesregierung dieses Mandat ernst nimmt und wenn der Bundestag sich selbst treu bleibt, dann gibt es für den Rückzug deutscher Truppen, insbesondere Kampftruppen, auch nach der Rede Obamas, wenig Spielraum. Und wenn es um die geplante Übergabe der Sicherheitsverantwortung in Regionen, beginnend in 2011, geht, dann ist das ein Prozess, der nicht sofort sondern erst in Jahresfrist Kampftruppen freisetzt. Wenn überhaupt 2011 schon Spielraum entsteht, dann wird er mit dem Rückzug der ersten 33.000 US-Soldaten noch geringer, denn die Erfolge im Kampf gegen die Taliban im Norden Afghanistans und die spürbare leichte Verbesserung der Sicherheitslage war nur durch die massive personelle und materielle Unterstützung sowie offensive Bekämpfung der Taliban durch die Amerikaner möglich. Da kann man die Lage kaum treffender beschreiben als General a.D. Egon Ramms, der in der Süddeutschen sagt: "Wenn die Amerikaner im Norden abziehen, dann stehen die Deutschen mit ziemlich kurzen Röckchen da."

Deswegen ist ein sicherheitspolitisch schwieriger Herbst vorhersehbar. Die SPD verlangt einen „verbindlichen Fahrplan“ für den Rückzug und die Grünen einen „konkreten Abzugsplan“. Die Linke kann wie immer vernachlässigt werden. Es springt einen förmlich an, wie unverantwortlich solche Oppositions-Forderungen sind. Unverantwortlich sind solche populistischen Aussagen, weil sie reflexartig, ohne die reale Lage in Afghanistan zu berücksichtigen, einer innenpolitisch orientierten amerikanischen Maßnahme kritiklos folgen und weil jeder „konkrete Abzugsplan“ den Taliban in die Hände spielt sowie unweigerlich die sehr überschaubar erzielten Fortschritte und die eigene Truppe gefährdet. Aber was schert die Opposition schon „das Mandat des Bundestages von gestern“. Aber es geht ja immer noch um eine verantwortbare und nachhaltige „Übergabe in Verantwortung“. Diese Verantwortung Deutschlands verbietet jeden „Fluchtgedanken“ insbesondere mit Blick auf die reale Lage in Afghanistan.

Wenn Außenminister Westerwelle einen Politikwechsel „in Richtung einer politischer Lösung" sieht, dann bleibt festzustellen, dass militärische Erfolge im Hinblick auf die Stabilisierung der Sicherheitslage durch die erkennbare desolate politische Situation verhindert werden. Die Regierung ist teilweise in korrupten Händen, das Drogengeschäft ist nicht nennenswert reduziert, die administrativen Strukturen sind nur unzureichend arbeitsfähig. Die islamistischen Taliban sind in der Lage, die teilweise korrupte Politik für ihre Ziele zu nutzen und Sicherheitskräfte zu unterwandern.

 In einer solchen politischen Situation ist es von geradezu eingeschränkter Bedeutung mit welcher Art von Waffen die afghanischen Streitkräfte und Polizei ausgerüstet sind und welche Stärke und Ausbildungsstand sie haben, sie werden nicht in der Lage sein, die Sicherheit der Bevölkerung voll zu gewährleisten. Von einer politischen Lösung ist Afghanistan also noch weit entfernt und es wird keine politische Lösung geben, die nicht hinreichend militärisch abgesichert ist.

In dieser politischen Gemengelage hat die NATO eine noch ziemlich unvollständige Armee aufgebaut, die Afghanistan auf längere Zeit nicht verteidigen kann. Sie hat eine Polizei aufgebaut, die ständig in verlustreiche Kämpfe verwickelt wird, aber den Gesetzen noch nicht wirkungsvoll zur Geltung verhelfen und Verbrechen bekämpfen kann. Die schlecht bezahlten Sicherheitskräfte sind anfällig für Korruption, Abwerbung und Unterwanderung. Und in dieser Lage darf man Afghanistan weder in einen Terminplan pressen, noch darf man Verhandlungen mit den Taliban unabhängig von der konkreten Sicherheitslage führen, wenn man es ernst meint und Verhandlungserfolge will.

Das Signal Obamas darf einfach nicht als Ruf „Rette sich wer kann!“ mit Fingerzeig auf das grell erleuchtete Zeichen „Notausgang“ verstanden werden. Denn wer es einmal durch den Notausgang geschafft hat, den interessiert wenig was hinter der später geschlossenen Tür passiert.

Hinter der – nach Abzug der internationalen Staatengemeinschaft - geschlossenen Tür darf keine politische Situation herrschen, die einen sehr blutigen Machtkampf zwischen der Administration Karzai, den islamistischen Taliban, den Warlords und Clans geradezu unausweichlich macht und Afghanistan in die Zeit vor 2001 zurückwirft. Das dürfen wir weder dem afghanischen Volk noch uns selbst antun.

Die internationale Staatengemeinschaft hat sich mit großen Illusionen in Afghanistan engagiert, jetzt darf sie nicht unter Verbreitung von neuerlichen Illusionen und unter Vortäuschung falscher Tatsachen kapitulieren!

(25.06.2011)

 

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