Hans-Heinrich Dieter

Demokratieverfall (13.06.2011)

 

Unsere deutsche Demokratie verkommt zu einer sehr mittelmäßigen "Medienkratie". Solch eine Aussage wird zunächst von betroffenen Kreisen in der Regel als Medienkritik aufgefasst, danach als Medienschelte diffamiert und letztendlich in die rechtspopulistischen Hinterzimmer deutscher Stammtische oder auch in schmuddelige Ecken in der Nachbarschaft zu Geistesstörungen verschoben. Das schnelle „Mundtot-machen“ von Kritikern ist zwar undemokratisch aber leider auch bei uns immer intensiver geübte Praxis.

Besser als das reflexartige Schwingen der "Medienscheltekeule" durch Medienvertreter wäre allerdings Meditation über die Mängel der Medien bei heutiger Mediation im Sinne von Vermittlung zwischen unterschiedlichen politischen Auffassungen auf der ernsthaften und demokratischen Suche nach der besten gesellschaftlichen Lösung.

In einer Demokratie geht die Staatsgewalt vom Volk aus. In Deutschland üben die Bürger diese Gewalt indirekt dadurch aus, dass sie sich an der politischen Meinungsbildung beteiligen und durch ihre Wahlentscheidung regierungsfähige politische Mehrheiten erwirken. Die Gewaltenteilung von Legislative, Exekutive und Judikative führt zu gegenseitigen Abhängigkeiten und ermöglicht die Kontrolle der staatlichen Organe. Die Kontrolle durch die freien Medien, als sog. „Vierte Gewalt“ beschränkt die Ausübung politischer Macht mittelbar durch kritische aber objektive öffentliche Diskussion politischer Sachverhalte. Und der demokratischen Idee entsprechend wird die Staatsgewalt natürlich von mündigen und rationalen Bürgern ausgeübt. Soweit zum Ideal.

Eine Ursache des Problems ist, dass wir uns vom demokratischen Ideal ziemlich weit entfernt haben. Das beginnt beim Souverän, dem Bürger.

Die allgemeine Bildung deutscher Bürger verringert sich. Dazu braucht es nicht unbedingt der Ergebnisse der PISA-Studien. Die von der Kultusminister-Konferenz festgestellt stark rückläufige Studierfähigkeit deutscher Abiturienten spricht eine eindeutige Sprache. Nach Aussagen der Industrie- und Handelskammer können viele Jugendliche aufgrund von eklatanten Bildungsmängeln nicht für einen handwerklichen Beruf ausgebildet werden. Und die Industrienation Deutschland steht vor dem wachsenden Problem, nicht genug ausgebildete Fachkräfte zu haben, um den dringenden Bedarf von Wirtschaft, Industrie, Handwerk und Handel decken zu können. Welche Qualität der Ausübung der Staatsgewalt ist von solchen Bürgern zu erwarten?

Was für den allgemeinen Bildungsstand gilt, stimmt erst recht für die Politische Bildung, nicht im Sinne von „Institutionenkunde“, sondern verstanden als Fähigkeit zu mündiger und rationaler politischer Beteiligung und verantwortungsbewusster Mitbestimmung. Viele Wähler sind bezüglich politischer und auch ökonomischer Themen schlecht informiert oder auch ganz einfach desinteressiert und zu mündiger Teilhabe am politischen Geschehen und zu rationaler Entscheidung zwischen politischen Alternativen nicht befähigt. Die Ursache dieses beklagenswerten Standes der politischen Bildung bei jungen Erwachsenen liegt im Versagen der Elternhäuser und der Schulen. Unzureichende Befähigung zu rationaler Beteiligung am politischen Entscheidungsprozess ist durch mangelhafte Information der politischen Parteien und der Medien begründet. Politisches Desinteresse, Abwendung von der Politik, ja Politikverdruss haben ihre Ursache im Verhalten vieler politisch Verantwortlicher. 40 Prozent Wahlboykott oder Wahlenthaltung und darüber hinaus sind heute nicht mehr ungewöhnlich.

Die politisch Verantwortlichen und die Volksvertreter sind nicht unbedingt die besten. Die Besten gehen in weitaus besser bezahlte Führungspositionen der Wissenschaft und Wirtschaft. Die Parteien stellen die Kandidaten zur Wahl, die in den Medien gebracht werden und „gut rüberkommen“ oder die „dran“ sind. Die Wähler wählen dann mit der Erststimme die Kandidaten der Partei ihres Vertrauens oder ihres Gefühls, die „gut rüberkommen“ und mit der Zweitstimme die Partei, die ihrer Meinung oder ihrem Gefühl entsprechend am besten „rüberkommt“, in den manipulationsgefährdeten Befragungen gut abschneidet, bzw. die Wähler am besten „mitnimmt“. Ãœber die Listen „versorgen“ die Parteien dann die verdienten Mitglieder. Von Bestenwahl kann keine Rede sein. Entsprechend hoch ist die - auch durch die Medien gezielt und personenbezogen gesteigerte - Unzufriedenheit mit den politisch Verantwortlichen, die stark gefordert und oft auch überfordert sind, deswegen keine Zeit mehr haben für die Menschen in den Wahlkreisen, den Kontakt zu den Bürgern verlieren und über die Bürger hinweg regieren und handeln. Viele Politiker scheinen zu glauben, dass sie genug informieren, wenn sie der Versuchung jedes Mikrofons erliegen und ein paar stimmige Sätze sagen.

Die regierende Exekutive ist - auch bedingt durch ständige Informations- und Kommentarforderungen der schnellen Online-Medien - hohem Handlungs- und Zeitdruck ausgesetzt. Das führt zu immer hektischer ausgeübter Regierungsverantwortung, zu einer immer häufiger feststellbaren unzureichenden Beteiligung der Volksvertreter im Bundestag – und die lassen sich das meist gefallen – das führt zu immer mehr politischen Entscheidungen und Gesetzen, die „mit heißer Nadel genäht sind“ und vom Bundesverfassungsgericht kassiert werden.

Die radikale Kehrtwende in der Energiepolitik, die jetzt vollzogen wurde, ist ein gutes Beispiel für die derzeit herrschende politische Un-Kultur in unserem Land. Nicht politische Rationalität der promovierten Physikerin Merkel hat zum „Atomputsch“ geführt, sondern parteipolitische Angst vor den möglichen wahltaktischen Auswirkungen der auch von den Medien geschürten Hysterie von lautstarken Stimmungsbürgern. Für eine intensive öffentliche Diskussion ist keine Zeit, im Schweinsgalopp werden Einigungen auf hoher administrativer Ebene herbeigeführt, ohne dass die vielfältigen und weitreichenden Folgen der Politik, über die man sich einigt, plausibel aufgezeigt worden wären. Acht Gesetze sollen nun in kürzester Zeit verabschiedet werden, ohne die demokratischen Gepflogenheiten notwendiger eingehender parlamentarischer Diskussion und erschöpfende Prüfung zu berücksichtigen. Frau Merkel will kurz nach der von ihr durchgepaukten Laufzeitverlängerung nun den schnellstmöglichen Atomausstieg und verkündet „Deutschland will…“ ohne dass es belastbare demoskopische Belege für diesen Mehrheitswillen gibt. Das Gegenteil ist eher richtig, denn CDU/CSU und FDP sind auch für die in den Parteiprogrammen festgeschrieben Laufzeitverlängerung von AKW als Teil einer ökonomisch, ökologisch, sozial und europapolitisch sinnvollen Energiepolitik mit der Atomkraft als Brückentechnologie gewählt worden. Die Wähler werden den jetzigen „Wahlbetrug“ zu würdigen wissen, insbesondere dann, wenn scheibchenweise die Folgen bekannt und spürbar werden. Die Gerichte werden mit Klagen gegen die Folgen dieser Politik alle Hände voll zu tun haben und das Bundesverfassungsgericht wird hinsichtlich der „Heiße-Nadel-Gesetze“ mit großer Wahrscheinlichkeit bemüht werden. Dieses Beispiel zeigt sehr deutlich, dass die für unser demokratisches System so wichtige Gewaltenteilung nicht mehr ausgewogen funktioniert. Und politische Persönlichkeiten, die das Rückgrat haben, gegen diesen Verfall der demokratischen Kultur öffentlich das Wort zu ergreifen, werden eher selten bekannt. Medien haben auch kein starkes Interesse daran, solchen „Nörglern“ öffentliche Wirkung zu ermöglichen.

Die „freien Medien“ als „Vierte Gewalt“ haben in unserer Demokratie einen immer größeren Einfluss, werden aber ihrer Rolle als „Demokratiehüter“ in diesen schwierigen politischen Prozessen leider immer weniger gerecht, obwohl sie mit ihrer veröffentlichten Meinung das politische Klima des Gemeinwesens ja nachhaltig bestimmen. Das beginnt damit, dass die Medien immer weniger gut über politische Zusammenhänge informieren. Sehr begründet wird vorwiegend in seriösen Medien selbstkritisch über die Boulevardisierung der Medien im Allgemeinen geklagt. Auch die öffentlich rechtlichen Sender gleichen sich quotengetrieben dem allgemein schlechten Publikumsgeschmack an. Frau Gerster zum Beispiel ist sich nicht zu schade, in einer Heute-Sendung als erste Information geschlagene fünf Minuten an das Urteil über den moralisch und charakterlich höchst zwielichtigen Kachelmann zu verschwenden. Aber er ist wohl ein „Promi“, das sind wertvolle, unser Gemeinwesen bereichernde Menschen wie auch Strauss-Kahn oder Lothar Matthäus, über die unsere Bürger vordringlich unterrichtet werden müssen. Für jedes mögliche vermeintliche Skandalinteresse gibt es ein wenig sagendes „Spezial“, und im Rahmen des Talkshow-Unwesens werden moralisierende Aufgeregtheiten und emotionale Entrüstungen verbreitet sowie den Teilnehmern Gelegenheiten geboten, dem eigenen Ego zu frönen und der veröffentlichten Meinung hinterher zu hecheln. Das alles dient kaum der objektiven Information der Bürger und ist im Hinblick auf wirkliche Diskussion häufig auch schlecht moderiert.

Solche Sendungen wären vorwiegend belanglos und von geringem Unterhaltungswert, wenn unsere „freien Medien“ frei und unabhängig wären. Frei und unabhängig sind unsere Medien nun wahrlich nicht. Die öffentlich rechtlichen Fernseh- und Hörfunksender sind in ihrer politischen Abhängigkeit leicht zuzuordnen. Das gilt auch für Privatsender, sofern sie überhaupt ernstzunehmende politische Informationen anbieten. Ãœber den SPIEGEL muss man nicht lange reden, die ZEIT hat sich mit ihrem Mitherausgeber Helmut Schmidt ohnehin endgültig festgelegt. Die einzige konservative Zeitung von Rang, die F.A.Z , von FR-Lesern als Frankfurter Allgemeine Zumutung verballhornt, informiert hinlänglich objektiv mit Ausreißern von Hofberichterstattung, bei den bekennenden linken Zeitungen kann man hinsichtlich der Abhängigkeit eine abnehmende und bezüglich der Qualität eine aufsteigende Folge festmachen: TAZ, Frankfurter Rundschau, Süddeutsche Zeitung. Nun kann jeder freie Bürger sich informieren wo er will. Da es aber der Mehrheit der Bürger an politischer Urteilfähigkeit mangelt, kann sie auch nicht zwischen Information, Manipulation, Desinformation und Propaganda unterscheiden. Das führt sehr leicht zu Fehlinterpretationen der veröffentlichten Meinung und zu entsprechendem politischen Fehlverhalten – oder, wenn man so will, zu fehlerhafter Ausübung der politischen Gewalt. Das ist auf Dauer hochgefährlich für unser Gemeinwesen.

Zur Lösung unseres Problems gibt es keinen Königsweg. Doch es ist unabdingbar, dass sich sowohl der Staat als auch die Bürger um eine verbesserte politische Bildung der Wähler kümmern. Wenn wir von integrationswilligen Einwanderern Einbürgerungstests verlangen, dann ist es nur folgerichtig, wenn wir das Wahlrecht nur den Bürgern zubilligen, die einen deutschen Staatsbürgertest erfolgreich absolviert haben. Wenn wählen dürfen etwas "kostet", ist wählen können etwas wert. Herausragende Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Wirtschaft und gesellschaftlichen Funktionen sollten es sich eine Ehre sein lassen, die Qualität der derzeitigen „politischen Klasse“ – im Hinblick auf die Vergütungen quasi ehrenamtlich – zu steigern. Politiker und Volksvertreter sollten endlich ihre ständigen Ankündigungen, Vertrauen der Bürger zurückgewinnen zu wollen, vorrangig realisieren. Die Volksvertreter müssen ihre Kontrolle der Exekutive ohne Zugeständnisse wahrnehmen und ihrer Rolle im Rahmen der Gewaltenteilung wirklich gerecht werden. Die Wut-, Dagegen-, Protest- und Angstbürger sollten für diesen demokratischen Gesundungsprozess demobilisieren, bei Stuttgart 21 wird das wohl nicht möglich sein. Fragwürdige Umfrageergebnisse zur Politikerbeliebtheit sollten für eine Weile nicht veröffentlicht werden, genau wie die Ergebnisse von sogenannten Sonntagsfragen, um die "Demoskopiehörigkeit" von Politikern zu reduzieren und damit auch dem ständig wachsenden Populismus entgegenzuwirken, der dadurch entsteht, dass Politiker ein möglicherweise manipuliertes Meinungsklima für die Wählerstimmung halten, sich danach richten und dem potentiellen Wähler nach dem artikulierten Bauchgefühl oder dem Munde reden.

Unsere Medien bräuchten eine selbstreinigende Medikation, um sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf der Mediokrität herauszuziehen. Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist ein hohes demokratisches Gut und gute, wirklich unabhängige Medien sind Voraussetzung für eine funktionsfähige Demokratie. Das bedeutet hohe Verantwortung.

(13.06.2011)

 

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