Hans-Heinrich Dieter

Chancen eines Brexits   (17.06.2016)

 

In einer knappen Woche entscheiden die Briten über ihre Zukunft in Europa. Politiker aller Couleur warnen vor dem Brexit. Der überlastete EU-Ratspräsident Donald Tusk überschlug sich geradezu im Alarmismus und sah ganz Europa bei einem Brexit auseinanderbrechen. Inzwischen wurde seine Rhetorik etwas eingefangen, aber immerhin spricht er noch davon, dass das Königreich ein "Schlüsselstaat" der Europäischen Union sei und warnt vor "unvorhersehbaren politischen und geopolitischen Konsequenzen". Der bisher sehr wenig erfolgreiche „politische“ EU-Kommissionspräsident Juncker, der wie immer keinen Plan B hat, mildert etwas ab und meint, ein Brexit sollte vermieden werden, allerdings sei die EU ohne Großbritannien auch nicht in "Lebensgefahr".

Dieses ganze Gerede ist ziemlich überflüssig, denn die Briten haben die Wahl, und auf der Grundlage des Wahlergebnisses muss die Europäische Union handeln. Und dazu sagt der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei im Europaparlament, Manfred Weber, pragmatisch, Großbritannien müsse klar sein, dass es die Vorteile der EU dann nicht mehr nutzen könne: "Die Regeln sind eigentlich relativ klar: Wer raus geht, geht raus." Oder mit den knappen Worten von Finanzminister Schäuble: „in is in und out is out!“ Wichtig ist, dass die EU bei einer Entscheidung für einen Brexit endlich einmal Handlungsfähigkeit zeigt und unverzüglich Vertragsverhandlungen mit Großbritannien darüber aufnimmt, wie die EU und Großbritannien ihre Wirtschaftsbeziehungen bei einem Ausscheiden im Sinne und zum Vorteil der EU neu regeln. Und hier bietet ein Brexit auch Chancen. Um solche Chancen nutzen zu können, muss sich die EU aber reformieren.

Denn die Europäische Union, und damit auch Europa, ist in einem bedauernswerten, ja geradezu mitleiderregenden Zustand. Die Finanzkrise ist nicht überwunden, die Staatsverschuldung ist in den meisten Mitgliedstaaten nicht im Griff, die massiven Strukturprobleme der meisten EU-Staaten sind nicht oder nur unzureichend behoben und die Flüchtlingsproblematik droht Europa zu spalten. Die Europäische Union hat massiv an Ansehen verloren und wird als Partner in der Weltpolitik wenig ernst genommen, weil die EU als strukturschwache Gemeinschaft von 28 mehr oder weniger egoistischen Nationalstaaten nur eingeschränkt handlungsfähig ist. Das Konsensprinzip führt dazu, dass Entscheidungen nur auf der Grundlage des kleinsten gemeinsamen Nenners getroffen werden. Solche Entscheidungen entwickeln naturgemäß nur eingeschränkte politische Schlagkraft. Wenn die Staaten Europas sich in unserer globalisierten Welt auf der Grundlage unserer gemeinsamen Werte in Krisen stabilisierend einbringen wollen, dann geht das mit Aussicht auf Erfolg nur gemeinsam. Diese gemeinsame EU-Politik gibt es aber genauso wenig wie eine gemeinsame EU-Außen- und Sicherheitspolitik, weil der Wille zu gemeinsamer Politik stark zu wünschen übrig lässt und die EU-Struktur effektive Machtausübung der Gemeinschaft verhindert. Diese Strukturschwächen müssen durch vertiefte Integration überwunden werden.

Dazu kommt, dass die EU sich zwar als Wertegemeinschaft versteht, aber nicht alle EU-Mitgliedstaaten sich diesen Werten verpflichtet fühlen. Griechenland ist höchst korrupt, nur eingeschränkt reformwillig und -fähig, fordert Solidarität der EU und verhält sich den EU-Mitgliedern gegenüber in hohem Maße unsolidarisch. Ungarn entwickelt sich weg von der Demokratie. Rumänien und Bulgarien erfüllen bis heute noch nicht die Mitgliedskriterien. Italien zeigt sich bisher nur eingeschränkt reformfähig. Kroatien ist in einer tiefen politischen und wirtschaftlichen Krise und bekommt die Korruption nicht in den Griff. Frankreich versteht sich immer noch als Grande Nation und ist mit seiner sozialistischen Mehrheit reformunfähig. Luxembourg hat sich auf der Grundlage von Steuerflucht- und Steuervermeidungsmodellen zu Lasten anderer Mitglieder über Jahre bereichert. Großbritannien träumt von Eigenständigkeit sowie vom British Empire und stellt sich mit höchst egoistischer Politik schon jetzt teilweise an den Rand der Union. In dieser Gemengelage von unterschiedlich leistungsfähigen und eingestellten Mitgliedstaaten werden die Länder Europas nur höchst widerwillig unter Einschränkung ihrer nationalstaatlichen Interessen einer fairen Lastenteilung bei der Bewältigung gemeinsamer Probleme zustimmen. Insbesondere Großbritannien hat mehrfach gezeigt, dass es nur zu gemeinsamer Politik bereit ist, wenn sie Großbritannien Vorteile bringt. Fairness ist von den Briten in solchen Zusammenhängen nicht zu erwarten.

Mit Großbritannien als Mitglied ist die EU durch die erforderliche vertiefte politische und wirtschaftliche Integration nicht zu reformieren. Wenn die EU bei einer Entscheidung für den Brexit in den Verhandlungen Großbritannien alle Privilegien streicht - also auch jene, die sich aus den 38 existierenden Handelsverträgen der EU mit anderen Staaten ergeben, dann wird auch anderen EU-Mitgliedern der Wert ihrer Mitgliedschaft deutlich vor Augen geführt. Und wenn eine Brexit-Entscheidung einen Domino-Effekt bei anderen Mitgliedern hervorruft, dann entsteht die Chance, dass sich die EU schneller zu einer Kern-EU entwickelt, deren Mitgliedstaaten tiefer integriert und solidarisch als Werte- und Wirtschaftgemeinschaft gemeinsame Politik gestalten wollen. Die erforderliche Reform wird ohne Großbritannien und andere wenig solidarische Staaten leichter und besser gelingen.

In or out, die Briten haben die Wahl. Allen Fachleuten zur Folge sind die Nachteile eines Brexits für Großbritannien ungleich größer als für die EU. Großbritannien bleibt auf enge Wirtschaftsbeziehungen mit der EU angewiesen - denn mehr als die Hälfte aller britischen Exporte gehen in die EU-Staaten - ohne dann allerdings auf die Vorteile des Binnenmarktes zurückgreifen zu können. Großbritannien bleibt Mitglied in der NATO und wird hier einen Beitrag zur Geopolitik Europas leisten.

Europa wird an einem Brexit nicht zerbrechen und die EU hat die Chance, sich leichter und erfolgreicher grundlegend zu reformieren.

(17.06.2016)

 

 

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